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Mythos vom Laienrichter

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Den glücklichen Umstand, daß in den letzten Monaten kein Urteil eines Geschworenengerichtes Schlagzeilen in der Presse verursachte und in der Bevölkerung heftige Diskussionen über die Richtigkeit respektive Gerechtigkeit der Entscheidung entfachte, soll man zum Anlaß nehmen, sieh „sine ira et studio”, ohne jegliche Beeinflussung durch einen aktuellen konkreten Fall mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

„Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein lebt in jedem und läßt den Laien Recht und Unrecht oft sicherer erkennen als den Juristen” — eines der Hauptargumente für die maßgebliche Mitwirkung von Laien bei Erkennung über Strafansprüche des Staates —, war ein Leitmotiv des bedeutenden bayrischen Strafrechtslehrers Karl v. Birkmeyer und ließ ihn in dem in unserem Nachbarstaat wesentlich heftiger geführten wissenschaftlichen Streit über Pro und Kontra der Laienbeteiligung für eine solche leidenschaftlich in die Schranken treten.

Mittlerweile ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und fast alle zivilisierten Staaten haben in irgendeiner Form dem Volke eine Beteiligung an der Rechtsprechung gewährt. Umstritten ist heute somit nicht mehr der Grundsatz an sich, sondern vielmehr Ausmaß und Modus der Laiengerichtsbarkeit; hiebei die den Erfordernissen einer gesetzesmäßigen Judikatur entsprechende ideale Lösung zu finden stellt sich als äußerst diffiziles, wenn nicht unlösbares Problem dar.

„Zickzack” der Geschichte

Die Schwierigkeit, ein System von hoher Perfektion auszuklügeln, wird vielleicht am besten durch die Stationen gekennzeichnet, die das Geschworenengericht zu durchlaufen hatte, um dennoch in seiner heutigen Form den Widerspruch und die Unzufriedenheit maßgeblicher Kreise hervorzurufen; im Re volutions jahr 1848 wurde nach französischem Vorbild der erste Versuch gestartet; die Zuständigkeit der ersten Laiengerichte in Österreich jedoch wurde auf Preßdelikte beschränkt. Die Strafprozeßordnung von 1850 unterwarf bereits alle Kapitalverbrechen sowie die sogenannten „politischen” Delikte der partiellen Laienjurisdiktion; zwei Jahre später jedoch bereitete eine kai erliche Verordnung diesem für die damalige Zeit zu radikal scheinenden Eingriff in hoheitliche Befugnisse ein vorläufiges Ende; erst das Staatsgrundgesetz von 1867 schuf wieder die Möglichkeit einer umfassenden Laienbeteiligung, die von der StPO, des Jahres 1873 im wesentlichen in der alten Form, dem von drei gelehrten Richtern gebildeten Gerichtshof und der Geschworenenbank, von zwölf Laien besetzt, übernommen wurde. Die Anzahl der Fehlentscheidungen stieg beträchtlich; in 24 Jahren, nämlich von 1896 bis 1920, wurden 843 Wahrsprüche gefällt, die nach Ansicht sowohl des Justizministeriums als auch der Anklagebehörde eine Verletzung des Rechtsempfindens darstellten, was einen erschreckenden Durchschnitt von 35 im Jahr ausmachte. Als Reaktion wurde des Geschworenengerichtes wesentlichstes Merkmal, nämlich die alleinige Beratung und Entscheidung der „Amateure” über die Schuldfrage, aufgegeben und durch eine gemeinsame Beratung ersetzt.

1920 erfolgte nach Schaffung der Schöffengerichte eine Reduktion der Geschworenenbank von 12 auf 6. Schließlich brachte das Jahr 1934 neben einschneidenden politischen Änderungen auch die Beseitigung des Geschworenengerichtes, an dessen Stelle das von drei Berufsrichtern und drei Laien gebildete Schwurgericht, trat, das seinem Wesen nach nichts anderes als ein erweitertes Schöffengericht, in dem Beratung und Abstimmung gemeinsam erfolgte, war. Diese oder eine ähnliche Form scheint heute noch namhaften Kreisen der Wissenschaft und Praxis, darunter keinem Geringeren als dem Ordinarius für Strafrecht an der Universität Wien, Prof. DT. Roland Graßberger, als die dem Idealmodus der Laienbeteiligung am nächsten kommend.

Recht wird Gefühl, Gerechtigkeit Glückssache

Seit 1950 hat der Mörder ebenso wie derjenige, welcher Verfügungen von Behörden „herabwürdigt” (§ 300 StG. klingt wie eine Warnung an die Demokratie, eine Mahnung an die Mutabilität ihrer Institutionen), das Recht, den Wahrspruch aus dem Munde des Obmannes von acht Geschworenen zu vernehmen und darüber hinaus die Gewißheit, daß im Falle eines Schuldspruchs die gemeinsame Entscheidung über Strafart und Strafmaß nur ganz selten die gesetzlich zulässige Höchstgrenze erreichen wird. Diese Mitwirkung der Geschworenen bank am Ausspruch über die Strafe, eine Abweichung von der historischen Form, ist ein Produkt der Erfahrung, daß die Laien aus Furcht, der Schwurgerichtshof würde eine zu strenge Strafe verhängen, die Schuldfrage einfach verneinten, wie die Wahrsprüche speziell in den Kriegsverbrecher- und Südtirolprozessen beweisen. Die oft gerühmte „Vorurteilsfreiheit der Laienrichter” kann man mit Ullmann („es ist eine psychologische Tatsache, daß Richter von Beruf, je länger sie ihr Amt verwalten, ein allgemeines Vorurteil gegen alle Angeklagten schöpfen”) bestenfalls negativ abgrenzen, da es unrichtig ist, Menschen generell als frei von Vorurteilen hinstellen zu wollen. Was die „oft schablonenhafte Fallbehandlung, die der Individualität des Angeklagten nicht gerecht wird”, betrifft, muß darauf hingewiesen werden, daß im Interesse der Rechtssicherheit das Tatstrafrecht von der Gesetzgebung eingeführt und von der herrschenden Lehre befürwortet wurde.

Die österreichische Gesellschaft für Strafrecht und Kriminologie kam 1955 nach Referaten des mittlerweile zum Generalanwalt avancierten DT. Duda, des Rechtsanwalts Dr. Schömer sowie des inzwischen pensionierten Dr. Cernstein zu dem Schluß, daß sich das Geschworenengerichtsverfahren in seiner neuen Fassung bewährt habe. Diese Feststellung rief allerdings Generalanwalt Dr. Viktor Liebscher auf den Plan, der ein Jahr später in den „Juristischen Blättern” vehement gegen diese Form der Laienbeteiligung auftrat und sie als „keinem sachlichen Bedürfnis entsprechend, sondern nach den Spielregeln der innenpolitischen Arithmetik entstanden” bezeichnete. „Die Meinung aber, daß eine Geschworenenbank auf sich allein gestellt, die schwierige Aufgabe der Rechtsfindung lösen kann, kommt der Anbetung eines Mythos gleich, an den in Wirklichkeit niemand mehr glaubt”, führte der Generalanwalt weiter aus und schnitt damit das Problem in seinem Kern an, Haben doch die Geschworenen nicht nur über Tat- sondern auch allein über Rechtsfragen zu erkennen, haben das Lebenskonkretum richtig zu subsumieren! Eine Aufgabe, die bei kompliziertem Sachverhalt auch die Juristen zu verschiedenen Lösungen führen kann und oft auch führt; die Tat — aber von der Rechtsfrage zu trennen, wie es in Frankreich im 19. Jahrhundert versucht wurde, ist in der Praxis undurchführbar und war auch bei der „Grande Nation” zum Scheitern verurteilt. Das Gesetz normiert die Merkmale eines Tatbildes bisweilen zu abstrakt und läßt die Grenze ähnlichen Tatbildem gegenüber manches Mal nur verschwommen erkennen, so daß eine richtige Zuordnung zur reinen Gefühls- und damit Glückssache wird.

Erkennbar ist die Unvollkommenheit darin, daß der Gesetzgeber, wohl bewußt der Schwierigkeiten, mit denen diie Geschworenen konfrontiert werden, dem Schwur- genichitshof Konitrollmögliohkeiten eingeräumt hat, diie der Laiiienjudi- katur einen gewissen Rahmen abstecken; die Rechitsbielehrung wird in der Praxis gründlich vorgenommen und kommt dadurch der Beeinflussung, der beispielsweise die Schöffen ausgesetzt sind, mehr als nahe; auf der anderen Seite stellt eine unvollständige Rechtsbelehrung keinen Nichtigkeitsgrund dar, ebensowenig wie eine unterbliebene Fragebesprechung; ein zu breiter Spielraum scheint also gegeben. Deckt sich der Wahrspruch, auf dessen Begründung durch die Laien der Gesetzgeber von vornherein verzichtet hat, nicht mit der einstimmigen Ansicht des Schwurgeniohtshofes, hat dieser die Möglichkeit, durch Aussetzung der Entscheidung die causa via OGH einem anderen Geschworenengericht zur Wahrheitsfindung zukommen zu lassen; da bei Übereinstimmung der beiden Wahrsprüche eine weitere Aussetzung nicht mehr statthaft ist, kann die groteske Situation eintrefen, daß Berufsrichter über Strafart und Strafmaß abstimmen müssen, ohne von der Schuld des Angeklagten überzeugt zu sein.

Eine wünschenswerte Reform

Man erkennt also das verzweifelte Bemühen, einerseits den Geschworenen möglichst große Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit zu gewähren, das Risiko einer Fehlentscheidung aber weitgehend edndämmen zu wollen und schuf daher ein Konglomerat komplizierter Bestimmungen, die weder eine annähernde ideale Form der Laienbeteiligung gewährleisten noch der Forderung nach Rechtssicherheit und Einheit der Rechtsprechung Rechnung tragen.

Um so dringlicher erscheint daher die Forderung nach Klarstellung dieser Materie, die nicht allein Juristen erregt, sondern in der politisch interessierten Öffentlichkeit zu Meinungsgegensätzen führt. Es soll nicht der Boulevardpresse überlassen bleiben, aus einem Rechtsnotstand etwa Schlagzeilen zu fabrizieren.

Die geplante Reform des Strafrechts und der Strafprozeßordnung muß Anlaß sein, auch über die Frage der Laiengerichtsbarkeit in aller Öffentlichkeit Pro und Kontra der Standpunkte zu hören und über das „Wie” einen Vorschlagskatalog zu erstellen.

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