6789854-1970_31_10.jpg
Digital In Arbeit

Protest wogegen?

19451960198020002020

„Man soll nicht generalisieren“ — aber manchmal muß man es; dann nämlich, wenn man die Einzelfälle nicht kennt. Es geschah also vor einiger Zeit, daß die Bischöfe von Paraguay sich veranlaßt sahen, den Staatspräsidenten General Stroessner zu tadeln. Nun wissen wir von den politischen Verhältnissen Paraguays ebensoviel wie von den Zuwachsraten der dortigen Nutzhölzer und können uns daher keinerlei eigene Meinung über die Berechtigung dieses Tadels bilden. Pauschal haben wir aber zu katholischen Bischöfen weit mehr Fiduz als zu lateinamerikanischen Generälen, und glauben daher leicht, daß der Präsident Tadel verdient hatte. Freilich aber fanden wir es bedauerlich, daß es in jenem Land einen solchen Gegensatz zwischen Staatsoberhaupt und Kirchenoberen gibt. Dagegen ist es uns aufgefallen, daß bei jenen Glaubensbrüdern, die man gemeinhin Linkskatholiken nennt, bei Gelegenheit ähnlicher Vorkommnisse eine freudige, eine vergnügte Stimmung zu herrschen pflegt, als ob ein solcher Konflikt etwas Erwünschtes wäre. In der Tat; man wünscht und verlangt in solchen Kreisen, daß sich die Kirche zu dem „Establishment“ in Gegensatz stelle.

19451960198020002020

„Man soll nicht generalisieren“ — aber manchmal muß man es; dann nämlich, wenn man die Einzelfälle nicht kennt. Es geschah also vor einiger Zeit, daß die Bischöfe von Paraguay sich veranlaßt sahen, den Staatspräsidenten General Stroessner zu tadeln. Nun wissen wir von den politischen Verhältnissen Paraguays ebensoviel wie von den Zuwachsraten der dortigen Nutzhölzer und können uns daher keinerlei eigene Meinung über die Berechtigung dieses Tadels bilden. Pauschal haben wir aber zu katholischen Bischöfen weit mehr Fiduz als zu lateinamerikanischen Generälen, und glauben daher leicht, daß der Präsident Tadel verdient hatte. Freilich aber fanden wir es bedauerlich, daß es in jenem Land einen solchen Gegensatz zwischen Staatsoberhaupt und Kirchenoberen gibt. Dagegen ist es uns aufgefallen, daß bei jenen Glaubensbrüdern, die man gemeinhin Linkskatholiken nennt, bei Gelegenheit ähnlicher Vorkommnisse eine freudige, eine vergnügte Stimmung zu herrschen pflegt, als ob ein solcher Konflikt etwas Erwünschtes wäre. In der Tat; man wünscht und verlangt in solchen Kreisen, daß sich die Kirche zu dem „Establishment“ in Gegensatz stelle.

Werbung
Werbung
Werbung

Das wäre an sich schön und gut. Das Wort „Establishment“ stammt ja bekanntlich aus England und bezeichnete jenes oligarchische Regime, das von der Revolution 1688 bis zur Parlamentsreform des 19. Jahrhunderts herrschte und entschieden, ja unmenschlich katholikenfeindlich war. In der Entstehungszeit jenes Wortes haben die Katholiken also wahrlich mit dem „Establishment“ nicht zusammengearbeitet. Und längst vorher sagte der Text des Palmsonntagsgottesdienstes, daß die Heiligen Gottes seine Lehre „vor den Königen und Machthabern dieser Zeitlichkeit mit freier Stimme bekennen.“ Jawohl, diese Aufforderung zum Protest hörten wir am Palmsonntag — und hören sie nicht mehr. Dehn die liturgischen Neuerer haben gerade diesen feierlichen Gesang abgeschafft, obwohl er doch so schön in die Tendenz zur Lösung politischer Bindungen zu passen scheint. Ja, aber... man müßte wohl mit psychoanalytischen Methoden untersuchen, warum dieser Text dennoch der höchsten Autorität zur Abschaffung vorgeschlagen wurde. Es ist nämlich ein eigenes Ding mit der Stellung kirchlicher Oberer gegen das „Establishment“, wie sie von gewisser Seite gewünscht wird. In jenem Hochgesang sprechen die Vertreter der Kirche vor den Machthabern „huius saeculi“, wörtlich dieses Jahrhunderts. Dagegen hat man zuweilen den Eindruck, als sprächen unsere neuerungsfreudigen Glaubensbrüder gerne sehr energisch zu den Königen und Machthabern vergangener Jahrhunderte, viel verlegener dagegen zu den Machthabern der Gegenwart oder gar der Zukunft — wie jene sie gewärtigen. Fortschrittliche Pfarrer in Frankreich etwa sind stolz und glücklich, wenn sie die angestammte Kirchenbank des Schloßherrn entfernt haben; man schmäht über die Verbindung zwischen der Kirche und lateinamerikanischen Latifundisten. Dagegen wäre zu sagen, daß in den meisten lateinamerikanischen Ländern eine solche Verbindung gar nicht besteht; jenes „Establishment“, das die verschiedenen liberalen Revolutionen des 19. Jahrhunderts geschaffen haben, ist vielmehr entschieden antiklerikal ... „but that is another story.“ Gesetzt, die Auffassung unserer Partner beruhe auf Tatsachen; gesetzt, die Kirche müßte sich zu enteignungswürdigen Kapitalisten erst in Gegensatz stellen; gesetzt, der Erzbischof von Recife wäre genau der Mann, den ganz Lateinamerika braucht, und das derzeitige „Establishment“ von Brasilien und Paraguay — das sind also zwei ganz verschiedene „Establishments“! — das wären lauter Schurken. Auch dann noch bleibt die Frage, wie sich denn die Oberen der Kirche zu solchen Establishments zu verhalten hätten, die nidit von linken Partisanen bedroht werden, sondern quietschvergnügt in voller Konsumgesellschaft leben und — auf dem linken Flügel dieser Gesellschaft stehen. Das gibt es nämlich heute.

Nicht in der marxistischen Welt jenseits des Vorhangs. Dort gehört einer zum „Establishment“ — oder er gehört nicht dazu. Und wenn nicht, dann kann er an wirtschaftlicher und politischer Macht gar keinen Anteü haben. Wie sich die Kirche einem solchen „Establishment“ gegenüber zu verhalten hat, wollen wir hier nicht fragen. Wir reden von der sogenannten freien Welt. Und da ist es sehr wohl möglich, daß einer vom bestehenden System lebt — sei es nun direkt durch ein Professorengehalt, sei es indirekt als Nutznießer des Wohlstands — und dennoch dasselbe bekämpft. Dann erklärt man wohl stolz: Ja, die freien Länder, ja die können sich das leisten. Das wird sich zeigen...

Doch nicht darum geht es uns hier, sondern um Folgendes. Wenn jemand von dem System eine bevorzugte, eine privilegierte Stellung bezieht, dann gehört er eben in jeder sinnvollen Hinsicht zum „Establishment“ und hat alle Kritiken zu gewärtigen, welche — so hören wir immer — die Kirche an besagtem „Establishment“ zu üben hat. Ja aber — er sagt ja selbst, daß er dagegen ist! Ja aber, der Sohn des Großbürgers beschmiert ja selbst das Schul-gebäude; ja aber, der reiche Verleger läßt ja selbst Angriffe auf die NATO drucken; ja aber, der pornographische Verleger sagt selbst, daß die Jugend eine ganz neue Welt bauen und daher die alte erst kaputtmachen muß. Also muß man sie in Ruhe lassen, wenn man sich gegeri das brasilianische oder bundesdeutsche „Establishment“ im Namen des Christentums auflehnt.

Mit Verlaub, so geht das nicht. Jawohl, wir wissen, die Linke hat die praktische Einrichtung von Asylzonen erfunden. Da wird eine Landschaft ausgesucht und erklärt, daß hier nur wir Krieg führen dürfen, nicht aber der Feind. Wir dürfen von hier aus schießen; schießt der Feind hierher, dann ist das Aggression. Sehr praktisch; direkt das Ei des Kolumbus. Aber kann es eine moralische Asylzone geben? Ist es statthaft, gleichzeitig folgende drei Dinge zu tun? Erstens verlangt man im Namen des christlichen Zeugnisses, daß die Kirche mit diesem und jenem „Establishment“ anbindet — auf jede Gefahr hin. Zweitens verlangt man, selbst von der Kirche in Ruhe gelassen zu werden, weil man sich, im Besitz enormer Machtmittel, dennoch nicht zum „Establishment“, rechnen lassen will. Drittens läßt man selbst jede Rücksicht auf christliche Begiffe und Gefühle beiseite; uns kann ja nichts geschehen. Glauben die Herren. Glauben die Herren von der sogenannten bunten Presse. Damit meinen wir ja gar nicht erst die richtige Schweinepresse, gegen die sich Deutschlands Behörden jetzt wieder zur Wehr setzen wollen. Damit meinen wir die gängigen Illustrierten mit ihrer total entchristliichten. Moral. Wir glauben und hoffen, daß wir von unseren kirchlichen Oberen deutliche Hinweise bekommen werden, was von den Moralbegriffen zu halten ist, die da einer zersetzten Bourgeoisie und einer zu Wohlstand geratenen Arbeiterschaft für gutes Geld vorgesetzt werden.

Man verstehe uns nicht falsch. Wir wissen sehr wohl, und sei es aus den Ausführungen von Bernanos in „La grande peur des bien pensants“, daß eine Kirche, die sich auf den Kampf gegen Unanständigkeiten konzentriert hätte, ihrem Auftrag entfremdet wäre. Wir pflichten jedem Linkskatholiken darin bei, daß die Kirche zuerst gegen Unrecht kämpfen und dann erst gegen Nuditäten protestieren muß; allerdings bekämen wir wohl Streit bei der Frage, was politisches und wirtschaftliches Unrecht sei... Wir verlangen beüeibe nicht, daß kirchliche Autoritäten sich an Details von Schmutz und Schund verbrauchen. Sowenig der Bürgermeister von Wien mit seinen Stadträten dazu da ist, selbst die Roßäpfel und Papiertüten von. den Straßen aufzuräumen, sowenig sind unsere Prälaten und Pfarrer dazu da, über jedes zur Schau gestellte Gesäß Klage zu erheben. Aber dazu sind sie da, das erwarten wir von ihnen zuversichtlich, daß sie die Wahrheit hochhalten und folglich vor dem Irrtum, vor der Unwahrheit, vor dem Bösen warnen.

Und darf das unwidersprochen bleiben, was in jener bunten Presse täglich auch und gerade dem einfachsten, dem arbeitenden Volk eingeredet wird? Es geht ja nicht einmal immer — obwohl auch sattsam oft — um ausdrücklich verkündete Lehren wie neulich jener Brief voll verzeihender verständnisvoller Nachsicht an einen Vater, der — ohne eigenes Verschulden, der Ärmste hätte es in seiner Jugend nicht anders gelernt! — noch immer etwas dagegen hatte, daß seine minderjährige Tochter die Pille ißt und mit ihrem Freund die Wochenenden verbringt. Genau so erheblich sind die stillschweigend schon als selbstverständlich vorausgesetzten Ideen. Da wird einer jungen Leserin der Rat gegeben, wie sie die Zumutungen, wohlgemerkt die brutalen weil allzuhäuflgen Zumutungen ihres Verlobten abweisen könne... hier rät man einer Dame, obwohl man „selbstverständlich“ einer ledigen Mutter keinen Vorwurf machen dürfe, dennoch lieber keine zu werden... Dort endet ein simpler Unterhaltungsroman mit dem Happy-End, wie es sich gehört — nur daß das rosig-strahlende Glück dadurch zustande kommt, daß der Hans und die Grete endlich, endlich von ihren Ehegatten „freigegeben“ werden. Es wäre durchaus falsch, diese Lebensanschauung als den Weg zum Kulturzustand von Buschmännern, von Hottentotten zu bezeichnen. Denn Buschneger haben Tabus; unsere Wilden bekennen sich zur Enttabuisierung. Unsere Oberhirten werden gewiß nicht verfehlen, ihr Kirchenvolk systematisch zur Abwehr gegen diesen geistigen Mist vorzubereiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung