Demonstration gegen das AKW Zwentendorf - © Foto: picturedesk.com  / Klinsky Fritz / KURIER

Die „toxischen“ Debatten der Zweiten Republik

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Die aktuelle Polarisierung des Diskurses ist kein Sonderfall der Geschichte. Eine Zeitreise durch die ­emotionalen Debatten der Republik mit einem ihrer zentralen Beobachter – und ehemaligen FURCHE-Redakteur: Anton Pelinka.

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Die aktuelle Polarisierung des Diskurses ist kein Sonderfall der Geschichte. Eine Zeitreise durch die ­emotionalen Debatten der Republik mit einem ihrer zentralen Beobachter – und ehemaligen FURCHE-Redakteur: Anton Pelinka.

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Der Diskurs ist vergiftet. Die sozialen Medien verstärken die Intoxikation. Wenn heute über Seenotrettung debattiert wird oder über Sozialpolitik, wenn Greta Thunberg gegen den Klimawandel protestiert oder Peter Handke der Literaturnobelpreis verliehen wird, dann gibt es oft nur noch ein dafür oder dagegen, ein „in“ oder „out“. Schwarz oder weiß – wo wollen Sie dabei sein? Entscheiden Sie sich jetzt per Like! Zwischentöne und Graustufen werden von Blasen-Verstärkung und Algorithmen zunehmend an den Rand der Unsichtbarkeit gedrängt. Das Resultat nennt der Amerikaner „prea­ching to the converted“: Man spricht vor allem zu einem Publikum, das den eigenen Ansichten tendenziell zustimmen wird, weil es die Welt ohnehin schon so ähnlich sieht wie man selbst.

Andererseits: War es nicht schon immer ein menschlicher Wesenszug, sich gerne mit jenen zu umgeben, die einem ähnlich sind – und sei es nur in puncto Weltanschauung? Und wurden große politische Debatten vor zehn, vor 20, vor 50 Jahren tatsächlich weniger polarisiert geführt als heute? Ausgerechnet in Jahrzehnten, in denen politische Veränderungen – von der 68er- und Frauenbewegung über die Fristenlösung, bis zu Hainburg und zur Waldheim-Affäre – großflächigen Eruptionen im Sozialgefüge glichen und den gesellschaftlichen Status quo von Grund auf veränderten?

Ängste vor Alleinregierung

„Ich halte es für eine unzulässige Vereinfachung, so zu tun, als sei das Land jetzt gerade besonders polarisiert“, sagt der Politikwissenschaftler Anton Pelinka, einer der zentralen politischen und zeitgeschichtlichen Beobachter der vergangenen Jahrzehnte. Das Land sei heute mit Sicherheit nicht „gespaltener“ als zum Beispiel in den späten 1960er und 1970er Jahren. „Wenn ich mich alleine an die Debatten um die Strafrechtsreform zur Entkriminalisierung von Homosexualität und um die Fristenlösung erinnere, dann war die Polarisierung damals enorm“, sagt der Politologe.

Pelinka ist einer der prominentesten Politikwissenschaftler des Lafndes. Und es gab Jahre, da war er nicht nur einer der häufigsten „Club2“-Stammgäste – seine politischen Analysen prägten damals gar die Fernsehbildschirme wie heute jene eines gewissen Peter Filzmaier. Was heute indessen nur noch die Wenigsten wissen: Vor seiner Karriere als Politologe war Pelinka Journalist – und zwar bei einer Zeitung namens DIE FURCHE. Seine Arbeit als FURCHE-Redakteur dauerte von 1966 bis 1967 – Pelinka war damals Mitte 20. Und ebenjene Jahre waren es auch, in denen sich einige der emotionalsten Debatten der Republik abzeichneten, die die Öffentlichkeit, Redaktionen und ganze Familien spalteten.

Exemplarisch, dass sich der familiäre Konflikt am Vietnamkrieg entzündete – und nicht an der NS-­Vergangenheit des Vaters.

Als Anfang 1966 die große Koalition zerbrach und Österreich­ erstmals seit 1945 von einer Partei allein regiert wurde – zunächst von der ÖVP, danach von SPÖ-Alleinregierungen unter Langzeitkanzler Bruno Kreisky – kamen Ängste auf, das könnte gefährlich werden, erinnert sich Pelinka. „Tatsächlich hat die heimische Demokratie dieses Mehr an Konflikt ganz gut ausgehalten.“ Bald darauf zogen auch in Österreich erste Vorzeichen der 68er-Bewegung auf. Die Emanzipation jüngerer Generationen von den bis dahin vorgegebenen Kanälen politischer Aktivität – sprich: den Parteien – wurde sichtbar. Plötzlich demonstrierte, diskutierte und konfrontierte man auch jenseits des klassischen Parteienspektrums. Damit einher ging eine Internationalisierung der Debatte. Die 68er-Bewegung schwappte schließlich mit den Pariser Studierendenprotesten und dem folgenden wochenlangen Generalstreik in Frankreich sowie der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings auch auf Österreich über.

Las man rund um die gro­ßen Flüchtlingsbewegungen 2015 samt aufgeheizter Debatten von ideologischen Gräben, die in Familien aufbrachen, so erzeugte das bei vielen Zeitzeugen vergangener Polit-Jahrzehnte durchaus Déjà-vus. Ab Ende der Sechzigerjahre sorgte etwa der Vietnamkrieg für noch deutlich intensivere Zerwürfnisse innerhalb von Familien – darunter auch zahlreiche prominente Beispiele. Otto Schulmeister etwa war von 1961 bis 1976 konservativer Chefredakteur der bürgerlichen Presse. In dieser Funktion pflegte er nicht nur eine äußerst US-freundliche Leitartikel-Praxis und trat entschieden für den Vietnamkrieg ein. Wie das Profil 2009 enthüllte, fungierte Schulmeister auch als Zuträger der CIA – womit er im österreichischen Journalismus jener Jahre übrigens durchaus kein Einzelfall war.

Bei seinem Sohn Stephan Schulmeister, Wirtschaftsforscher und heute prominenter Neoliberalismus-Kritiker, führte Vietnam zum offenen Konflikt mit dem Vater – spätestens als der Sohn die 1971 publizierten „Pentagon Papers“ gelesen hatte. Seine Schwester Terese Schulmeister scherte ebenfalls deutlich aus der elterlichen Linie aus, als sie Otto Mühls Kommune beitrat. Es sei für Österreichs Geschichte durchaus exemplarisch, dass der familiäre Konflikt sich an der Vietnamkriegsdebatte entzündete – und nicht etwa an der NS-Vergangenheit des Vaters, sagt Pelinka. Otto Schulmeister hatte seine Karriere bei NS-Zeitungen begonnen und ab 1942 für eine Propagandaabteilung der Wehrmacht gearbeitet. Ebendies sei später auch an der 68er-Bewegung kritisiert worden: Die nationalsozialistischen Verwurzelungen der Vätergeneration wurden nur am Rande berührt. Die öffentliche Aufarbeitung der österreichischen NS-Vergangenheit vollzog sich erst deutlich später – im Zuge der Waldheim-Affäre.

Geburt zivilen Ungehorsams

Zuvor sorgten aber noch andere politische Großthemen für gesellschaftlichen Aufruhr – ganz besonders die Frauenbewegung: „Erst im Jahr 1966 wurde mit Grete Rehor von der ÖVP erstmals eine Frau Ministerin“, erinnert Pelinka. „Der Frauenanteil im Nationalrat lag noch in den 1970ern ähnlich wie in den 1920ern.“ Plötzlich aber begann sich alles zu bewegen. Die Kämpfe der Frauenbewegung kulminierten schließlich im emotionalen Konflikt um die Fristenlösung – in dem die Bischofskonferenz letztlich das Nachsehen hatte. „Das war schon ein Kulturbruch“, sagt Pelinka. „Die katholische Kirche musste damals erkennen, dass sie nicht mehr die politisch umsetzbare gesellschaftliche Kraft der Vergangenheit hatte.“

Der Frauenanteil im Nationalrat lag noch in den 1970ern ähnlich wie in den 1920ern. Plötzlich aber begann sich alles zu bewegen.

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Einen großen Einschnitt in die Verhältnisse der Republik stellte zudem die sich formierende Umweltbewegung dar, für die zwei Ereignisse prägend waren: Die Volksabstimmung um das AKW Zwentendorf 1978. Und die Besetzung der Hainburger Au 1984. Entscheidend waren diese Ereignisse, weil basisdemokratische Bürgerbewegungen erstmals realpolitische Erfolge feierten – und so etwas wie die Geburtsstunde des zivilen Ungehorsams in Österreich einläuteten. „Es war zum ersten Mal eine politische Entscheidung gegen den Konsens der Sozialpartner“, sagt Pelinka. Wie die Kirche bei der Fristenlösung, mussten ÖGB und Wirtschaftskammer – bei Zwentendorf wie Hainburg als Unterstützer der Projekte einig – erkennen, dass ihre Macht abnimmt.

Mit der Waldheim-Affäre ab 1986 brach schließlich ein Thema großflächig auf, das in der heimischen Öffentlichkeit bis dato meist erfolgreich tabuisiert wurde: Österreichs Rolle im Nationalsozialismus. Es war die Zeit der SPÖ-FPÖ-Regierung unter Kanzler Fred Sinowatz und die SPÖ erlebte eklatante Verluste in Regionalwahlen und Umfragen. Die ÖVP als große Oppositionspartei nominierte den einstigen UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim für die Bundespräsidentschaftswahl. „Sinowatz bekam Informationen über ungeklärte und dunkle Punkte in Waldheims Vergangenheit“, sagt Pelinka, „und spielte diese Karte aus, um den weiteren Abstieg der SPÖ zu verhindern.“ Waldheim gewann die Wahl 1986 zwar trotz der breiten Debatte um seine Rolle als Wehrmachtsoffizier im Zweiten Weltkrieg, war fortan aber ein faktisch gelähmter Bundespräsident. Bei der Nationalratswahl wenige Monate später gewann die SPÖ unter ihrem neuen Parteichef Franz Vranitzky. „Der Nutznießer des ÖVP-Pyrrhussieges durch Waldheim war die Sozialdemokratie“, sagt Pelinka. Die weiteren Folgen der Affäre Waldheim – inklusive internationaler Isolation – sollten noch für viele Jahre die heimische Öffentlichkeit spalten.

Die politische ‚Spaltung‘ verläuft nicht mehr entlang klassischer Links-Rechts-Grenzen. Sondern zwischen ‚Globalisten‘ und ‚Regionalisten‘.

Und heute? Ist die gesellschaftliche Lagerbildung, die sich mit Antritt der türkis-blauen Bundesregierung erneut verstärkte, im historischen Vergleich tatsächlich besonders herausragend? „Es gibt aktuell eine andere Polarisierung als in vergangenen Jahrzehnten“, sagt Pelinka. Sie ginge auch quer durch ÖVP und SPÖ. Beim Migrationsthema hätte sich etwa auf der einen Seite die FPÖ deutlich positioniert, auf der anderen die Grünen und die Neos. Auch die politische „Spaltung“ verläuft heute weniger entlang einer klassischen Links-Rechts-Grenze, sondern vielmehr entlang einer Linie formaler Bildungsabschlüsse, mit der gesellschaftliche Milieus eng verwoben sind. „Wer wählt Grüne und Neos? In erster Linie jüngere, besser Gebildete“, sagt Pelinka. Freiheitliche Wähler sind dagegen mehrheitlich Männer mit niedrigeren formalen Bildungsabschlüssen – dies weitgehend über Generationsgrenzen hinweg.

In der Praxis spannt sich die Linie, die für politische Haltungen und Wahlverhalten heute so entscheidend ist, zwischen „Globalisten“ und „Regionalisten“. Der britische Journalist und Buchautor David Goodhart prägte für diese gegensätzlichen Milieus die Begriffe „Anywheres“ und „Somewheres“. „Die Anywheres fühlen sich überall zuhause, können am Pariser Montmartre genauso schnell ein Heimatgefühl entwickeln wie im sechsten Wiener Gemeindebezirk“, sagt Pelinka. „Die Somewheres sind überzeugte Waldviertler und können sich nur vorstellen, im Waldviertel zu leben.“ Die großen Unterschiede in Lebensstil und – kaum weniger wichtig – Lebensgefühl dieser beiden Gruppen sind es, die der Polarisierung heutiger Debatten ihren Stempel aufdrücken wie kein anderes Gegensatz-Paar.

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