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Frankreich zwischen Macht und Geist

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Die großen Wahlenthaltungen der letzten Jahre in Frankreich lassen den Schluß zu, daß ein Teil der öffentlichen Meinung des Landes mit der Meinung der organisierten Parteien nicht übereinstimmt, um einer unter ihnen die Stimme zu geben. Es wäre jedoch falsch, daraus ableiten zu wollen, daß nur Indifferenz gegenüber dem politisdien und staatlichen Geschehen die Lethargie weiter Kreise des Volkes erklären würde. Viele unter ihnen suchen sich in den verschiedensten Organisationen zu finden, die entsprechend ihrer Natur sehr verschiedenen Charakter zeigen. Einige sind auf dem Weg, sich zu regelrechten Parteien zu entwickeln oder haben dieses Stadium bereits erreicht. Daneben gibt es jene „Studienkreise“, die stets in der französisdien Gesdiichte eine bedeutende Rolle spielten: man denke an die geistige Vorbereitung der großen Französischen Revolution — und in erster Linie sind jene beiden Gewalten zu erwähnen, die kraft ihrer Organisation, ihres Dynamismus oder der Stellung, die sie im Leben der Nation einnehmen, teilweise auch zur Quelle der politischen Willensbildung geworden sind: die katholische Kirche und die Gewerkschaften.

Die katholische Kirche, noch vor einigen Jahrzehnten das spirituelle Organ des gehobenen Bürgertums, im Kampf gegen die Laizität auf fast schon verlorenem Posten, die Kirche des Adels, der Monarchie, der „Rechten“, ist wieder zu den Massen und der Jugend gestiegen, ist eine kämpfende und leidende, aber auch eine siegende geworden.

Und konnte noch vor nicht zu langer Zeit Abbe Godin ausrufen: „La France, pays de mission“, so ist heute Frankreich Vorkämpferin einer geistigen Erneuerung geworden, die größten Um-

Vgl. die Aufsätze desselben Autors „Von der dritten zur vierten Republik“, Folge VI/31 der „Furche“, und „Regierungsparteien und Opposition in Frankreich“ (VI/34), fang annimmt. Die Jugend und Intelligenz, müde der Enttäuschungen und Erschütterungen der letzten zehn Jahre, unbefriedigt der vagen Andeutungen der Existentialisten und der Auswüchse des Parteienkampfes, ist dabei, die Kirche als wesentlichen Ausdruck des Daseins zu finden. Wenn noch der 1914 gefallene Dichter Peguy seine Wallfahrt nach Char-tres allein unternommen hat, so streben heute Tausende junger Intellektueller demselben Ziel entgegen. Und in einer der schönsten Kathedralen der Welt findet die Kommunion statt zwischen der Kirche und jenem sozialen Streben einer Generation, die, durch Kriege und Resistance gegangen, zu einem neuen Ufer strebt, zu einer Entdeckung des Menschen, die eine Sinndeutung der Existenz im Metaphysischen sucht:

Aber die Kirche, getreu der Parole des Herrn, entdeckte ihrerseits wieder die Arbeiterschaft, die Armen und die Massen der Vorstädte. Gewisse Anfänge, wie die Mission von Paris, mögen vorläufig als Experiment gelten, aber die katholische Jungarbeiterbewegung (J. O. C. — Jeunesse Ouvriere Chretienne) hat bereits ihren Einfluß in ganz hervorragender Weise zur Bekämpfung politischer Streiks geltend gemacht, und die 20.000 Jungbauern, welche vor kurzem dem staunenden Paris die Kraft ihrer Organisation JAC (Jeunesse Agricole Chretienne) demonstrierten, künden den Aufbruch des neuen geistigen Frankreich. Die mächtigen katholischen Massenbewegungen, Ligue Feminine d'Action Catholique (2,200.000 Mitglieder) und die Föderation Nationale Catholique (1,000.000 Mitglieder) spielen eine politische Rolle, wenn sie auch gemäß ihrer Natur keine politische Aktion entfalten. Organisationen wie Mouvement Populaire des Familles (Volksbewegung der Familien), welche unter starker Beteiligung der Arbeiter die Tradition der J. O. C. in den Familien fortsetzt, kann nicht umhin, zu den Tagesfragen entsprechend energisch Stellung zu nehmen. Handelt es sich doch dabei in erster Linie um die Verteidigung und den Schutz der christlichen Familie.

Ob in Schulfragen oder sozialen Problemen: die Katholiken wurden wieder ein eminenter Faktor des öffentlichen Lebens. Die Kirche ist in keiner Weise an den Staat gebunden und hat sich die Freiheit des Handelns dadurch bewahrt. Sie schenkt der französischen Kultur nicht nur Dichter und Gelehrte, sondern erzeugt jene eigenartige soziale Strömung, die jenseits des üblichen Konservativismus die Bedingungen der modernen Welt mit dem christlichen Sittengesetz vereinen will.

Die Kirche ist an keine Partei gebunden, und sie denkt auch nicht daran, eine solche zu gründen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, in alle Milieus einzudringen, und wir finden ihre Vertreter im R. P. F. genau so gut wie im M. R. P., während sich zwischen Kommunisten und den Sozialisten auf der einen Seite und der Mitte auf der anderen die Aspekte einer neuen christlichen politischen Linke auftun, revolutionärer in ihrer Forderung als der M. R. P. und mit dem Wunsch nach einer umfassenden Reform der derzeitigen Gesellschaftsordnung.

Die katholische Kirche Frankreichs zeigt im Augenblick kein einheitliches Gesicht. Sie ist nicht klerikal im Sinne des Wortes, nicht konservativ oder nur sozial. Sie geht wieder ihrer universalen Sendung entgegen, und in ihrem Raum spielt sich eine Begegnung aller Klassen ab, verschiedener politischer Tendenzen und Orientierungen.

Nicht umsonst hat Pius XII. eindringlich am Ostermontag 1950 von der Sendung der katholischen Kirche in Frankreich gesprochen, Es erscheint, als ob sich neuerlich weltweite Perspektiven eröffnen, neue Gewalten ans Tageslicht drängen, befruchtet von der Kirche als Symbol der Gegenwart.

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