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Minderheitsproblem am Rande der Vo

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An 20 Millionen Menschen befinden sich seit Kriegsende auf der Wanderung. Die Hauptmasse dieser Völkerflut stellen einerseits die im Kriege von Deutschland aus dem Westen, Osten und Südosten Europas versdileppten und zur Bedienung der deutschen Kriegsmaschine eingespannten Arbeitskräfte, die bereits — bis auf geringfügige, wenn auch nodi erhebliche Schwierigkeiten verursachende Reste — in ihre Heimatländer rückbefördert wurden, andererseits und in überwiegender Anzahl die Deutschsprachigen, sogenannten „Volksdeutschen“, aus dem Osten und Südosten unseres Kontinents, deren Wanderung noch in vollem Zuge ist und noch geraume Zeit in Anspruch nehmen wird. Noch ist kaum mehr als ein geringer Bruchteil, etwa 15 Prozent, dieser auf rund 12 Millionen zu veranschlagenden Menschenmenge in die ihr von den Großmächten zugewiesenen Aufnahmegebiete im deutschen Raum übergesiedelt. Es zeigen sich aber schon jetzt allerlei Folgeersdicinungen dieses gewaltigen und menschlidi wie politisch und wirtschaftlich tiefgreifenden Experiments an allen Ecken und Enden Europas. Ja selbst an Stellen dieses sdiwer erschütterten Weltteiles, an denen man sie füglich nicht hätte erwarten können. Hier soll aus der Fülle des einschlägigen Materials bloß ein Problem skizziert werden, das, scheinbar nebensächlich für das Gesamtbild Europas, doch deutlich die Tragweite der Auswirkungen jeder Kräfteverschiebung auf die Interessen der Mitwelt aufzeigt. In den letzten Wochen ist am Rande der europäischen Völkerwanderung das seit mehr als zwei Jahrzehnte ruhende Problem der dänischen Minderheit in Süd-Schleswig und der Sicherheit der Südgrenze Dänemarks von neuem aufgerollt worden.

Die in Vollziehung des Versailler Friedensvertrages 1920 durchgeführte Volksabstimmung in Schleswig — die in klagloser Weise nach den Grundsätzen der Sprache und der Volkszugehörigkeit erfolgte — brachte eine den ethnischen Gegebenheiten weitestgehend Rechnung tragende Teilung dieses Gebietes zwischen Dänemark und Deutschland, wobei nur recht geringfügige fremdnationale Minderheiten in den betreffenden Teilen verblieben. Die Stärke der dänischen Minderheit im deutschen Teile Schleswigs wird zur Zeit auf rund 15.000 Seelen geschätzt; die weiteren Anhänger Dänemarks und Befürworter des Anschlusses an Dänemark in der Bevölkerung mögen ebensoviel oder wenig mehr Deutschspradiige ausmachen. Die Minderheit genießt seit der Volksabstimmung Minderheitsreditc, die als vollkommen und mustergültig bezeidinet werden können. Nebst völliger staatsbürgerlicher Gleichberechtigung mit dem deutschen Mehrheitselement verfügen die Dänen in Süd-Schleswig über eigene Schulen, Ärzte, Organisationen, Zeitungen und Zeitschriften. Selbst die Spitzen der Behörden in der wichtigsten Stadt, Flensburg, rekrutieren sich in auffallender Weise aus Angehörigen der dänischen Minderheit, deren unmittelbare Betreuung durch Institutionen und Staatsangehörige Dänemarks über die Grenze hinweg auf keinerlei Widerstand von seiten der deutschen Behörden, beziehungsweise der britischen Besatzungsmacht stößt. Bezeichnenderweise zeigt die dänische Minderheitsorganisation in Süd-Schleswig eine steile zahlenmäßige Zunahme, seitdem ihr von britisdier und deutscher Seite das Recht auf Bezug von zusätzlichen Nahrungsmitteln und von Kleidung aus Dänemark zugebilligt worden ist.

Aus dem Zustrom von Deutschsprachigen aber, die aus dem Gebiet jenseits der Neisse ausgesiedelt werden und im Einklang mit dem Ansiedlungsplan des Berliner Alliierten Kontrollrates in Süd-Sdileswig zwischen der dänischen Grenze und dem Kaiser-Wilhelm-Kanal Aufnahme finden, ergab sich nun eine neue Lage, die zu — bisher vergeblichen — Vorstellungen von Seiten Dänemarks bei den Großmächten führte. Dänemark erklärt sich durch die beträchtliche Vermehrung des deutschen Elements an seiner Südgrenze in seiner Sicherheit für gefährdet und verhingt von den Großmächten die Abziehung der deutschen Einwanderer aus Süd-Sdileswig und die Einführung einer Sonderverwaltung D e u t s c h - S c h 1 e s w i g s und Holsteins. Den gleichen Wunsch hat es kürzlidi im Zuge von Handelsvertragsverhandlungen mit Sowjetrußland unmittelbar Marschall Stalin gegenüber vor-gebradit und hieran noch die Bitte um Befreiung von den mehr als 200.000 deutschen zu der russisdien Zone Deutschlands gehörigen Flüchtlingen geknüpft, die sich nodi in Dänemark selbst aufhalten. Auf die Bestrebungen Dänemarks wird von britischer Seite mit dem Argument erwidert, daß Süd-Schleswig sich zur Ansiedlung deutscher Ausgewiesener aus triftigen Gründen besonders eigne, da es einerseits von Kriegszerstörungen weitgehend verschont geblieben sei, daher über relativ zahlreiche intakte Wohnräume verfuge, andererseits zudem einen Ernährungsüberschuß aufweise. Die Nähe der dänischen Grenze könne, abgesehen davon, daß es sich hier um einen von allen Großmächten vereinbarten Ansiedlungsplan handle, eine Ausnahme für Süd-Schleswig um so weniger rechtfertigen, als die britische Besatzungszone trotz der ungünstigen Lebensverhältnisse ein Kontingent von nicht weniger als zweieinhalb Millionen deutscher Rückwanderer zu gewärtigen habe.

Nach britischer Auffassung steht hinter dem Begehren Dänemarks ein politischer Zukunftsplan, dessen Legitimität nicht bestritten wird: die Angliederung von Süd-Sdileswig an Dänemark zu einem noch in der Ferne liegenden Zeitpunkt. Dänemark hätte wohl begründete Aussicht auf einen Erfolg gehabt, wenn es zu Kriegsende eine Forderung nach neuerlicher Volksabstimmung angemeldet hätte, was es jedoch — klugerweise — unterließ, da eine Abstimmung unter den gegenwärtigen zerrütteten Verhältnissen in Deutschland ein gefälschtes Bild hätte ergeben müssen; zahlreiche Deutsche würden lediglich um sofortiger Vorteile willen für Dänemark ihre Stimme abgegeben haben, woraus sich im Laufe der Zeit nach Konsolidierung der Lage in Deutschland leicht eine deutsche Irredenta im Süden des Königreiches hätte entwickeln können. Dänemark habe daher nach britischer Auffassung vorgezogen, im Verlaufe mehrerer Jahre durch zweckmäßige Tatpropaganda eine Mehrheit für den Anschluß Süd-Schleswigs an Dänemark heranzubilden. Die starke Zunahme des deutschen Elements durch die Zuwanderungen aus dem Oder-Neisse-Gebiet mache nun dieses Konzept ebenso hinfällig, wie es auch eine Volksabstimmung im gegenwärtigen Augenblick außer Frage stelle. Der britische Standpunkt will die Argumente der Bedrohung seiner Sicherheit und der Unterdrückung und Majorisierung der dänischen Minderheit in Süd-Schleswig nicht als gerechtfertigt ansehen, ohne dabei die lebhafte Sympathie mit den dänischen Wünschen nach Ausdehnung seiner Grenzen auf Süd-Schleswig zu verleugnen. Es ist bemerkenswert, daß die stärkste politische Partei Dänemarks, die Sozialdemokraten, einvernehmlich mit den Liberalen den dänischen Ministerpräsidenten Kristensen eindringlich davor warnen, Schritte zu unternehmen, die eine Loslösung Süd-Schleswigs aus dem Gefüge Deutschlands und seine Einverleibung in Dänemark im gegenwärtigen Zeitpunkt zur Folge haben könnten. Man darf begierig sein, den weiteren Verlauf dieser Kontroverse zu verfolgen, die in uns Österreichern die Erinnerung daran wachruft, daß vor 82 Jahren auch österreichisches Blut für dieses Stück Erde geflossen ist.

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