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Nachbar Ostmitteleuropa

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Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Von Oskar Halecki. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 527 Seiten

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Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Von Oskar Halecki. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 527 Seiten

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Die Originalausgabe, 1952 in New York erschienen, wurde seinerzeit bereits in der „Furche" besprochen. Die nunmehr vorliegende deutsche Ausgabe, übersetzt von Emil K. Pohl, rechtfertigt ob der großen Bedeutung dieses Werkes eine Benachrichtigung des Publikums. Sind doch die politischen Verhältnisse in Osteuropa, auch wider Erwarten des Autors, in der Zwischenzeit in Fluß gekommen. Halecki wagt es, in seinem Vorwort für diese deutschsprachige Ausgabe, Herbst 1956, noch nicht, für sein Heimatland Polen die baldige Befreiung zu hoffen. Die teilweise Ueberholung seiner Sorge durch die Wirklichkeit macht das Werk aber nicht weniger aktuell, im Gegenteil: die Dynamik der gegenwärtigen politischen Entwicklungen im Ostraum Europas verstärkt das Interesse des mitteleuropäischen Publikums an der tausendjährigen Vorgeschichte der Dramen und Tragödien der Gegenwart. Da kann es nun, nachdem, wie Günther Stoki (Wien-Bonn) in seiner Einführung vermerkt, die ältere deutsche Geschichtswissenschaft diesen Raum stiefmütterlich genug behandelt hat, gar nicht genug Bemühungen geben, um in unseren Landen Verständnis zu wecken für „Ostmitteleuropa". Halecki versteht darunter die Grenzvölker der westlichen Zivilisation, die Balten, Polen, Ungarn, Tschechen und Balkanvölker, und zeigt sehr nachdrücklich auf, wie unglücklich und „unsachgemäß", wenn man so sagen darf, diese Völker mehrfach gerade von jener Seite her behandelt wurden, von der sie Hilfe und Schutz erhofften und erbaten: vom „Abendland“, vom Westen. Neben religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Hilfeleistungen, die ihnen da zukamen, steht ein großes Maß unglücklicher Politik, Uebermachtung und ungeschickter Eingriffe. Es ist selbstverständlich, daß der konservative Pole Halecki einen Hauptakzent seines Werkes auf die unselige Zerstückelung Polens legt, die das europäische Gleichgewicht zerrüttet hat und das erste Beispiel, mitten im „christlichen Abendland", bot für die räuberische Vernichtung eines Staates, der durch nahezu ein Jahrtausend ein

Mitglied der abendländischen Gemeinschaft gewesen war. Hier wird an Hand eines reichen Tatsachenmaterials dargetan, daß jeder, der sich in Zukunft politisch, wirtschaftlich, kulturell mit diesen Völkern befassen will, zunächst eine Gewissenserforschung anstellen muß. Was haben meine Ahnen, meine Vorväter und Väter, getan, daß diese Völker in die gegenwärtige Situation gerieten? Gewiß: Viel Schuld und „Schuld", Versagen, liegt, wie immer, bei den direkt Betroffenen. Es gibt aber keine westeuropäische Macht, die nicht mitschuldig geworden ist, zuerst an den chaotischen Verhältnissen, dann an den Fehlleistungen im politischen und gesellschaftlichen Neuaufbau in diesen Räumen. Halecki hat gute Gründe, weshalb er eine wirkliche Befriedung und Befreiung dieser Völker nur in einer größeren Gemeinschaft für geschichtlich möglich hält, als eine Aufgabe und einen Auftrag der Zukunft. Er meint, ebenfalls mit guten Gründen, daß diese Gemeinschaft die „atlantische Gemeinschaft" der freien Völker des Westens, eingeschlossen also Amerika, sein wird. Dies halten wir für den einzig wunden Punkt in der Konzeption des verehrungswürdigen Verfassers. Er, der so großartig die Welt der polnisch-litauischen Union beschreibt, er, der selbst in Altösterreich im Vielvölkerstaat die gemeinschaftsbildende Kraft erfahren hat, die die Völker, welche hier konkret Zusammenleben, zu verbinden vermag, wenn eine politische Idee sie einander sorglich zuführt, sollte doch nicht übersehen, daß es nur neue Zerrungen und Spannungsfelder für diese Räume bedeuten kann, wenn man sie in die fragwürdige Blockbildung der „atlantischen Gemeinschaft" eingliedern will. Alle Hilfe aus dem Westen bleibt, nicht nur für Ostmitteleuropa, fragwürdig, wenn sie den kleinen Völkern und Staaten nicht hilft, eben durch diese Unterstützung zu einer freien Partnerschaft mit jenen Großmächten zu kommen, die sie in Vergangenheit und Gegenwart bedroht und bedrängt haben.

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