6779550-1969_37_07.jpg
Digital In Arbeit

Struwwelpeter rot frisiert…

19451960198020002020

Seit einigen Jahren wissen die deutschen Verleger das Aktuali- tätsinteresse ihres Publikums bei jedem großen Ereignis zu nutzen, wenn ihnen inzwischen auch klar geworden sein muß, daß von der rasch auf den Markt geworfenen Literatur viel Makulatur tibrigbleibt. Bisher wurden die Bundestagwahlen nicht zu den „großen Ereignissen” gerechnet. Diesmal ist es anders.

19451960198020002020

Seit einigen Jahren wissen die deutschen Verleger das Aktuali- tätsinteresse ihres Publikums bei jedem großen Ereignis zu nutzen, wenn ihnen inzwischen auch klar geworden sein muß, daß von der rasch auf den Markt geworfenen Literatur viel Makulatur tibrigbleibt. Bisher wurden die Bundestagwahlen nicht zu den „großen Ereignissen” gerechnet. Diesmal ist es anders.

Werbung
Werbung
Werbung

Zunächst zieht der sachliche Titel „Wahlführer 1969” (darunter: „Politiker, Parteien, Programme”) offenbar ein Sachbuch, herausgebracht vom R. Piper & Co. in München, an. Der Autor, Professor Hartmut Jädcl, ist seit 1963 Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und einer der Mitarbeiter der „Sozialdemokratischen Wählerinitiative”. Gewiß, sein Schau der Wahlkreise, des Wahlgesetzes, der Bundes- und Landtagswahlen wie auch sein Wahlwörterbuch sind um Sachlichkeit bemüht. Und trotzdem, sein Buch (von 192 Seiten) beginnt: „38,6 Millionen Bundesbürger werden zur 6. Bundestagswahl am 28. September 1969 wahlberechtigt sein. Rund fünf Millionen werden von ihrem Wahlrecht keinen Gebauch machen.” Subjektiv ist auch seine Kalkulation des Wahlausgangs.

Sachlich Luchterhand, der einen Band den „Wahlgesetzen” widmet. Ein Air von Sachlichkeit umgibt noch zwei weitere Wahlbücher: „Theorie und Praxis der deutschen Sozialdemokraten”, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn, herausgegeben vom sozialdemokratischen Wahlmanager Wischnewski, der am Schluß in der SPD eine „echte Alternative” sieht; Alternative ist auch sonst ein in den Wahlschriften seit 1961 spukendes Modewort. Ferner die „30 Thesen für neue deutsche Politik” im Hamburger Christian- Wegner-Verlag, herausgebracht vom „Deutschlandpolitischen Arbeitskreis”; sie zeigen wie Wischnewskis Buch die Übereinstimmung der Koalitionspartner in den großen Fragen. Propagandistisch-polemischen Inhalt haben die meisten übrigen Produkte: „Mitbestimmung” von zwei Referenten bei der IG-Metall, Dietrich Schneider und Rudolf Kuda; „Die Oder-Neiße-Limie — eine Kriegsgrenze” von Yves Brancion im Stuttgarter Seewald-V erlag; „Die Große Koalition — zum Erfolg verurteilt”, von Franz Schneider, erschienen bei Hase und Doenler in Mainz; tendenziös „Das bundesdeutsche Kartenhaus” von Georg Schmige im Holstein-Verlag; „Perspektiven” mit dem Untertitel „Sozialdemokratische Politik im Übergang ziu den siebziger Jahren” von Bundesjustizminister Horst Ehmke, mit dem Aufmarsch der ganzen SPD-Prominenz; „Die Russen kommen … nicht”, bei Rütten und Loening, von Helmut Wolfgang Kahn, einem Publizisten der Militärpolitik, der zu dem Schluß kommt: „Die Bundesrepublik braucht nur zuzugreifen, wenn sie ,echte Sicherheit für morgen’ will.”

Da ist es schon erfreulicher, weil viel informativer, Sammlungen zu lesen wie „Fakten sprechen”, wobei einer der Herausgeber der Preußenhistoriker Hans Joachim Schoeps ist und neben Wischnewski und Günther Müller (beide SPD) auch Freiherr von Guttenberg (CSU), Scheel (FDP, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit), Armin Mohler und andere zu Wort kommen; wo sich Bundesinnenminister Ernst Benda mit der Notstandsverfassung, andere mit der parlamentarischen Opposition oder der „linken Linken” befassen. Ein Musterbeispiel eines sachlichen Wahlkampfbuch mit Tatsachenuntermauerung schrieb ein Assistent am historischen Institut der Universität Bochum, Lutz Niethammer: „Angepaßter Faschismus”, im S. Fischer-Verlag, worin sich der Autor mit der NPD auseinandersetzt. Bleibt nur noch der Humor — der freiwillige wie der unfreiwillige. „Der Struwwelpeter neu frisiert” bringt als bösen Friedrich den bösen Ulbenicht, Kiesinger als den großen Nikolas, der Erhard und die Koalitionspartner ins Tintenfaß taucht, den wilden Jäger Gerstenmaier, den Dauerausrutscher (Lübke), den Butter-Hermann (Höchler), den Zappel- Franz (Strauß), den Gerhard-Guck- in-die-Luft (Schröder). Unfreiwillig humoristisch, ja hart am Geschmack vorbei, ißt „ein Wahlgeschenk”, das Gerhard Zwerenz im Frankfurter Heinrich-Heine-Verlag als „Die Lust am Sozialismus” varlegt; er geht mit der sexfreudigen Zeit. Als Wahlbeitrag verstehen die Buchhändler auch den erst seit dem 13. August ausgelieferten neuen Roman von Günter Grass „örtlich betäubt”. Das ist aber beileibe nicht sein Hauptbed- trag zu den Wahlen. Manche Kritiker meinen sogar, daß die durchweg kritischen Stimmen zu diesem Roman auch Grassens bekannte Wahlhilfe für die SPD beeinträchtigen könnten. Heinrich Böll hat sich aus einem Linkskaitholiken über tiefen Kulturpessimismus zu einem Anti-CDU-Kämpfeir, besonders in Richtung weiblicher Wähler, gewandelt.

Dagegen hat Rowohlt seine Alternative-Taschenbücher mit Literaten (in den Jahren 1961 und 1965) aufgegeben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung