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„Unter der Regierung Kaiser Franz Josephs II..."

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Das österreichische Volk gibt im Grund seines Herzens eingelebte Formen, die seinem inneren Wesen entsprechen, nicht gerne preis. Ueber alle Zeiten hinaus bewahrt es ihnen die Treue. Nur so ist es verständlich, daß sowohl die Barockzeit als auch der Josephinismus nicht nur unverwischbare Spuren im Antlitz der Oesterreicher hinterlassen haben, sondern sich auch heute noch viele Teile des öffentlichen und privaten Lebens in barocken oder josephi-nischen Formen abspielen.

Das gleiche scheint von der Regierungszeit Kaiser Franz Josephs I. zu gelten. Nicht von der ganzen Regierungszeit des Kaisers, sondern von den Jahren 1867 bis 1914, einer Epoche, die eingestandenermaßen oder uneingestandener-maßen allen Oesterreichern als der Inbegriff der ,.guten, alten Zeit“ erscheint. Die Formen, die in dieser Zeitspanne das öffentliche und teilweise auch das private Leben beherrschen, scheinen in unseren Tagen so stark wiederzukehren, daß spätere Generationen die heutige Zeit vielleicht nicht mit Unrecht als eine Neo-franzisko-josephinische Epoche bezeichnen werden. Ein Blick auf das österreichische Dasein von heute wird diese These bestätigen.

Das besondere Kennzeichen der Habsburgermonarchie seit 1867 war, daß sie aus zwei Hälften bestand, der österreichischen Reichshälfte, die den offiziellen Titel „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ führte, und der transleithanischen Reichshälfte, dem Königreich Ungarn. Beide Reichshälften waren in sich völlig selbständig, nur gewisse gemeinsame Angelegenheiten wie die Außenpolitik, die Finanzen, die Armee wurden durch gemeinsame Aemter, die „k. u. k. Ministerien“ verwaltet. Alle zehn Jahre fanden Ausgleichsverhandlungen über die gemeinsamen Rechte und Pflichten beider Hälften statt, die durch die sogenannten „Delegationen“ — Ausschüsse aus den beiden Parlamenten — auf außerparlamentarischem Boden durchgeführt wurden.

Das besondere Charakteristikum der österreichisch-ungarischen Politik war, daß Ungarn immer als „starker Mann“ auftrat und sich bemühte, die Leitung der ganzen Monarchie an sich zu reißen. Obwohl der kleinere der beiden Partner, genoß das Königreich der Stephanskrone die gleichen Rechte wie der größere — ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Minister Andrassy, dem einst von seinen Landsleuten •eine dualismusfreundliche Politik vorgeworfen wurde, erwiderte darauf: „Wir zahlen zu den gemeinsamen Ausgaben nur 30 Prozent, und haben aber die gleichen Rechte wie jene, die 70 Prozent bezahlen müssen.“ Ein weiterer Vorteil Ungarns bestand darin, daß es ständig drohen konnte, aus der Doppelmonarchie auszutreten, die österreichische Reichshälfte dagegen nicht. Einen dritten Vorteil besaß Ungarn dadurch, daß es für seine Forderungen immer wieder auf der österreichischen Seite Bundesgenossen finden konnte — besonders die Deutsch-Liberalen —, wodurch es indirekt auf die selbständige österreichische Politik einwirken konnte, die österreichische Politik dagegen umgekehrt nicht. Die Ursache liegt in der Art, wie die beiden Reichshälften regiert wurden: Ungarn streng zentralistisch, besessen von der Idee der Nationalisierung aller nichtmadjarischen Elemente, denen so gut wie keine Rechte zugestanden wurden. Die österreichische Reichshälfte dagegen in einer fortschreitenden Demokratisierung, die es den verschiedensten politischen Kräften erlaubte, im öffentlichen Leben mitzuspielen.

• jla der heutigen österreichischen Politik hat die SPOe die Rolle Ungarns übernommen, die OeVP die Rolle der „Im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Aehnlich wie Ungarn ist die SPOe streng zentralistisch geleitet, mit einem klaren Wissen von den eigenen Wünschen, beseelt insbesondere von der Nationalisierung, diesmal nicht der Nationalitäten, sondern der Wirtschaft, der Berufe, der Stände. Die OeVP dagegen ähnelt nur zu sehr der österreichischen Reichshälfte. Wie diese vereinigt sie Zentralisten, Föderalisten, Liberale, Nationale, Konservative, Katholiken, Bauern, Handwerker, Industrielle usw. Wie in der seinerzeitigen österreichischen Reichshälfte standen auch in den vergangenen zehn Jahren in der Politik der OeVP einmal die katholische Komponente, einmal die liberale, einmal die nationale, einmal die bäuerliche, einmal der „linke“ Flügel, einmal der „rechte“ Flügel führend im Vordergrund. Manchmal hatten Außenstehende auch den Eindruck, daß ähnlich wie in der alten österreichischen Reichshälfte überhaupt nicht regiert, sondern nur verwaltet wurde, welcher Zustand an das Wort Taaffes vom „Fortwursteln“ erinnert.

Beide „Reichshälften“ der heutigen österreichischen Innenpolitik werden ebenso streng autonom verwaltet, wie die Reichshälften der Monarchie. Von den Gebieten, die Domäne der OeVP sind, ist die SPOe von der Mitregierung praktisch ausgeschlossen, von den Herrschaftsbereichen der SPOe wiederum die OeVP. Gewisse gemeinsame Angelegenheiten werden wie in der alten Monarchie, von „gemeinsamen“ Ministerien verwaltet. Diese sind das Bundeskanzleramt, das Innen-, das Handels-, das Außenministerium. Ihre „Gemeinsamkeit“ wird dadurch ausgedrückt, daß je zwei Minister an ihrer Spitze stehen, ein OeVP- und ein SPOe-Minister bzw. -Staatssekretär. Die gemeinsamen Rechte und Pflichten der beiden Hälften werden in gemeinsamen Ausgleichsverhandlungen festgelegt, die nicht durch das Parlament direkt, sondern durch Ausschüsse der Parteien erledigt werden. Es ist die Wiederkehr der „Delegationen“. Aehnlich wie in der Habsburgermonarchie lange Zeit Ungarn der schwächere Teil war, der dennoch die gleichen Rechte wie der größere Teil genoß, konnte auch die SPOe durch jene Jahre, da sie schwächer war als die OeVP, dennoch die gleichen Rechte für sich in Anspruch nehmen. Und ähnlich wie Ungarn ist es auch das Bestreben der SPOe, von der kleineren zur größeren Reichshälfte zu werden und damit die Regierung des Gesamtreiches in ihre Hände zu bekommen — ein Wunsch, der der SPOe fast schon bei den letzten Wahlen erfüllt worden wäre. Und nochmals ähnlich dem alten Habsburgerreich, kann die SPOe wie Ungarn jederzeit mit dem Austritt aus der Koalition drohen, die OeVP dagegen nicht. Es ist die Wiederkehr der „Monarchie auf Kündigung“. Ebenso wie Ungarn kann die SPOe auch stets versuchen, in einem Teil der sogenannten „Bürgerlichen“ einen Bundesgenossen zu finden, über den sie indirekt die Politik der OeVP beeinflussen kann, die OeVP dagegen nicht. Von hier aus wird die große Förderung des Vdll im Jahre 1949 durch die SPOe verständlich, ebenso wie der Ruf des Vizekanzlers Schärf nach.einer liberalen Partei.

Zum Schluß gibt es noch eine Parallele über die Gleichung Ungarn = SPOe, und Oesterreich = OeVP: Das Königreich der Stephanskrone führte bekanntlich die obligatorische Zivilehe ein und anerkannte das Konkordat von 1855 nicht, da es in einem Ex-lex-Zu$tand abgeschlossen worden war. Oesterreich dagegen hielt an der konfessionellen Eheschließung fest, es gestattete nur eine bedingte fakultative Ziviltrauung und führte in der Praxis das Konkordat, wenn auch sehr durchlöchert, durch. Ebenso ist die SPOe für die obligatorische Zivilehe, die OeVP für die fakultative, die SPOe lehnt das Konkordat von 1934 ab, da es (was nach Völkerrecht belanglos ist) in einem Ex-lex-Zustand abgeschlossen wurde, die OeVP dagegen sorgt wenigstens für eine teilweise Durchführung desselben.

Oesterreich unter der Herrschaft Kaiser Franz Josephs des Zweiten...

Abseits dieser Hauptvergleiche gibt es noch Nebenvergleiche. Sie sind angedeutet durch die Namen des Kaisers, der dieser Epoche seinen Stempel aufprägte. In ihm mischen sich die franziszeische und die josephinische Komponente des österreichischen Wesens.

Der franziszeische Staat war politisch kon-lervativ und patriarchalisch; wirtschaftlich-politisch bevorzugte er den Bund der Stände, das waren die Feudalen, die Bauern, die Gewerbetreibenden; geistig bekannte er sich zum Christentum. Er war schalkhaft heiter im Sinne eines Raimund und Nestroy, das heißt, er nahm die Welt nicht immer ernst.

Der josephinische Staat war politisch zentralisiert, wirtschaftlich proklamierte er den Wohlfahrtsstaat, geistig bekannte er sich zur Aufklärung und zu einem mehr oder minder gemäßigten Antiklerikalismus. Er war nüchtern, rationell und — langweilig.

Die Trägerin der josephinischen Tradition ist heute die Sozialistische Partei. Denn sie ist zen-tralistisch, antiföderalistisch, sie bekennt sich zum Wohlfahrtsstaat, zur Aufklärung und zu einem gemäßigten Antiklerikalismus. Die Bauten, die die SPOe in Wien aufführte, sind, ebenso wie die josephinischen Bauten, praktisch, nüchtern und von einer trostlosen Langweiligkeit.

Die Volkspartei dagegen repräsentiert weitgehend die franziszeische Komponente des österreichischen Wesens. Sie ist konservativ, behebig-patriarchalisch-demokratisch, wie Franz Joseph, der das allgemeine Wahlrecht einführte. Sie ist föderalistisch; wirtschaftlich räumt sie dem Genossenschaftswesen Raum ein, und ist gemäßigt anti(staats)kapitalistisch. Ihre Wirtschaftspolitik wird weitestgehend beeinflußt von dem Bund der Bauern, der Gewerbetreibenden und der heutigen Feudalen, das sind die großen Wirtschaftsführer, die sie in ihren Reihen versammelt.

Oesterreich unter der Regierung Kaiser Franz Josephs des Zweiten...

Historia magistra vitae: Die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens. Sie wiederholt sich nicht, sie gibt nur Parallelen, aus der die Gegenwart und die Zukunft lernen können.

Vor allem sollte die Zukunft aus einem Wort Kaiser Franz Josephs I. lernen, das er zu seinem Ministerpräsidenten Koerber sprach: Daß die eine Hälfte des Reiches immer auf ihre eigenen Ansprüche poche, ohne zu bedenken, wie sie mit den Ansprüchen der anderen Hälfte in Einklang zu bringen ist.

Was in der heutigen und zukünftigen Zeit nichts anderes heißen kann, als daß auch im neuen Oesterreich die beiden Hälften nicht gegeneinander kämpfen sollten, sondern ihre eigenen Ansprüche jeweils in Einklang mit denen des Partners bringen mögen.

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