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Wenn zwei dasselbe tun

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Während des zweiten Weltkrieges hingen in allen Eisenbahnwagen kleine Plakate mit der Warnung: „Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat.“ Den unliebsamen Lauschern aus dem Dritten Reich wollte man die Arbeit erschweren. Jetzt aber scheint diese Parole im schweizerischen Parlament zu einer staatspolitischen Maxime geworden zu sein. Als die Boulevard-Zeitung „Blick“ über die große außenpolitische Debatte des Nationalrates referierte und dabei boshafterweise erwähnte, daß trotz Fernsehkameras und Scheinwerfern zwei Ratsmitglieder — sie wurden namentlich aufgeführt — schlicht und einfach schliefen, wurde die Maxime brutale Realität: der Ratspräsrdent erließ auf sechs Monate ein Hausverbot für den betreffenden Redakteur. Dabei stützte er sich auf einen Artikel des Geschäftsreglements, wonach weggewiesen werden kann, wer sich im Saal „ungebührlich“ benimmt und damit die Verhandlungen „stört“.

Die Frage, wie ein Journalist, der anderntags die peinliche Wahrheit schreibt, die Verhandlungen stört, wird nie beantwortet werden. So kann man sich denn des Eindrucks nicht erwehren, daß der Ratspräsident ganz einfach einen unliebsamen Kritiker mundtot machen wollte. Ist schon diese Machenschaft höchst bedenklich, so wird sie noch gewichtiger durch den Umstand, daß keiner der Ratsmitglieder (und unter ihnen gibt es zahlreiche von der Pressefreiheit profitierenden Journalisten) gegen die präsidiale Verfügung protestierte und daß auch die Berufsvereinigung der Parlamentsberichterstatter nicht den kleinen Finger rührte. Im Gegenteil: Als der Nationalratspräsident Sich mit dem Vorsitzenden der Journalisten in Verbindung setzte, bevor er sein Ver-’ dikt verkündete, erhielt er die servile Antwort: „Eis steht mir nicht zu, Ihre Entscheidung zu weiten,…“

Gegen Nonkonformisten

In jedem Parlament gibt es Fehlentscheidungen, und überall, wo . politische Maßnahmen getroffen wer- ( den müssen, ist mit Irrtüimem zu , rechnen. Was sich aber jetzt in der Schweiz abzedchnet, ist der allmäh- . liehe Verlust der krifisch-demokrati- sehen Gesinnung jener, die für den ‘ Staat verantwortlich sind.

In den gleichen Tagen, da sich der : „Blick“-Zwischenfall abspielte, hatte i sich der Nationalrat mit dem Pro- : blem’ der Pressekonzentration und I dem Ausbau des Fernsehens zu be- : schäftigen. Während vor einigen Jahrzehnten jede Partei dem Rund- 1 funk vorwarf, die Vertreter der Gegenpartei zu bevorzugen, ergab 1 sich jetzt im September 1968 gegen- 1 über dem Fernsehen ein ganz ande- j res Bild: Das Gleichgewicht zwi- i sehen den politischen Gruppierungen 1 scheint im Fernsehen eingespielt, so ä daß niemand zum Beispiel gegen das Auftreten eines sozialdemokratischen i oder eines christlichsozialen Referen- i ten am Bildschirm protestiert®, doch j alle Gruppierungen hatten sich zu- t sammengeschlossen, um Ihne Pfeile t gegen die Mitwirkung Parteiloser 1 öder sogenannter Nonkanformisten t abzusöhließen. Die Mitarbeit von I Femsehverantwontlidhen bei Partei- c Zeitungen wurde generös über- gangen, um dann um so vehemen- c ter gegen jene TV-Leute zu feuern, g die nebenbei für parteilose Zeitun- I gen schreiben.

Und wiederum stand kein einziger Volksvertreter auf, um die Kon- kordanz nicht nur zwischen den Par- teien, sondern auch darüber hinaus zu garantieren. Alle kuschten, und selbst der Linksaußen der Sozialdemokraten fühlte sich offensichtlich einem Rechtsaußen der Radikalen verwandter als dem Parteilosen, der "j nur seinem Gewissen verpflichtet ist.

Gerade das aber ist es, was in den i letzten J ahren zu einem politischen i Unbehagen geführt hat, das weit da- 1 von entfernt ist, sich abzubauen. Als x vor bald zwei Jahren schweizerische 1 Bundesräte, also Ressortminister, mit 1 der obersten Spitze der Radio- und 1 Fernsehgesellschaft dinnierender- c weise zusammencsaßen, entfachte sich c ein Sturm, denn es waren dabei —natürlich in freundschaftlichstem Ton — Sendungen beanstandet und gegen einzelne Mitarbeiter Zensuren auisgetedlt worden. Die Folge des Pressefeldzuges der nicht-parteige- bundenen Zeitungen war, daß Rundfunk und Fernsehen nun endlich auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestellt werden sollen. Der betreffende Artikel liegt im Entwurf vor und enthält die Garantie für „Programmfreiheit von Radio und Fernsehen“.

Ghetto und Kaste

Nach der Annahme des Verfassungsartikels — der einer Volksabstimmung unterliegt — werden die Ausführungsgesetze erlassen werden müssen. Die Haltung, die die Abgeordneten jetzt anläßlich des „Blick“-Zwischenfalls und bei der Fernsehdebatte eingenommen haben, läßt nichts Gutes ahnen, und die Parteipresse aller Schattierungen ist offensichtlich nicht mehr bereit, das ihr zugedachte höchste Wächteramt auszuüben.

Die Schweiz, die sich so gerne die „älteste Demokratie der Welt“ rühmt, hat das ungeheure Glück gehabt, die Krdegszeit ohne Bomben und Vernichtung, nur mit ein ganz klein wenig Einschränkung überleben zu können. Aber dafür war ihr nach Kriegsende jener tiefe Einschnitt vorenthalten worden, der zu neuem Uberdenken und zu fortschrittlichem Neuanfang hätte führen können. Das Koalitionsdenken, im Krieg entwik- kelt, mündete in die falsche Vorstellung, wonach alles Oppositionelle auch gleich destruktiv oder gar staatsgefährlich sei. Hieraus ergibt sich eine gefährliche Wechselwirkung: Der Bürger hat bei den Wah len keine eigentliche Wahl mehr und opponiert — wtie dies demokratiegerecht wäre — nicht mehr innerhalb der demokratischen Einrichtungen, sondern identifiziert siclh mit der sogenannten „außerparlamentarischen Opposition“. Das Parlament, ja im weiteren Sinn das ganze Establishment separiert sich noch deutlicher von dieser Opposition, die deshalb die politischen Vorgänge immer weniger begreift. Dem Ghettogeist des Establishment steht der Kastengeist der Opposition gegenüber. Man versteht sich gegenseitig immer weniger, Stimmbetedli- gungen von weniger als 30 Prozent sind die Folge. Parlament und außerparlamentarische Opposition finden sich höchstens noch in gemeinsamen Protestrufen gegen ausländische Vorgänge. Sollte zum Beispiel in einem kommunistischen Oststaat oder auch im Frankreich de Gaullas ein Parlameritsberichterstatter aus dem Saal gewiesen werden, nur weil er einige unliebsame Wahrheiten geschrieben hat, würde man sich in gemeinsam p" P-otesf finden. Wenn zwei dasselbe tun…

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