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Der Neubau Deutschlands

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Ein Reise von Wien nach Berlin hat bis heute ihre Hindernisse. Für Berlin ist jeder Zuzug noch gesperrt, weil die Verpflegung der Riesenstadt, die bereits in ihren Ruinen wieder mehr als drei Millionen Menschen beherbergt, ohnehin schon schwer genug ist. Es flüchten trotzdem aus den Transporten, die für Brandenburg bestimmt sind, täglich mehr als 600 Menschen nach Berlin, weil sie hoffen, auf eigene Faust eher zum Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Zur Zeit bestehen, wie die Zeitung „Der Tages-spiegel“ berichtet, in Be.rlin 38 Lager, in denen etwa 20.000 Personen untergebracht sind. Fünf Millionen Mark hat die Stadt seit dem Juli des vergangenen Jahres für diese Flüchtlinge aufzuwenden gehabt. Sie werden so rasch als möglich an die neuen Bestimmungsorte weitergeleitet.

Es gibt in Berlin keine Zeitung, die wie in Wien unter ihrem Kopf die Angabe trägt: Herausgegeben von den russischen, englischen oder amerikanischen Streitkräften oder ähnliches, sondern es werden deutsche Verleger und Schriftleiter von den verschiedenen Besatzungsbehörden konzessioniert. So gilt die „Tägliche Rundschau“ als das Blatt der russischen Militärverwaltung, während der „Tagesspiegel“ die amerikanische, der „Kurier“ die französische und der „Telegraf“ die englische Konzession besitzt. Daneben besteht eine parteipolitische Presse. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die für Berlin noch nicht genehmigt ist und nur in der Ostzone Deutschlands tätig ist, bringt als Morgenzeitung „Neues Deutschland“ und als Abendzeitung den „Vorwärts“ heraus. Der alten SPD hat bisher der „Telegraf“ (verschmolzen mit dem „Berliner“, dem bisherigen SPD-Organ) seine Spalten zu Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt. Seit Ende Mai erscheint dreimal wöchentlich ein neues Blatt für die „Schumacher-Sozialdemokraten.“ Die Christlich-Demokratische Union (CDU) nennt ihre Zeitung „Neue Zeit“ und die Liberaldemokraten die ihre „Der Morgen“. Daneben erscheinen eine Anzahl anderer Tageszeitungen, die die eine oder andere politische Färbung vertreten. Am stärksten ist die Richtung der Einheitspartei vertreten, ohne daß damit auda die stärkste politische Parteirichtung angedeutet werden soll.

Zweifellos ist das demokratische Kräftespiel noch nicht so frei wie in der übrigen Welt, einschließlich Österreichs. Noch gibt es keine für ganz Deutschland geltenden Parteigruppierungen mit einer zentralen Leitung. Jede Zone hat ihre verschiedenen Parteigebilde, und selbst eine Organisation wie die SPD hat ihre differierende Zonenfärbung. Wie stark diese Abweichungen sind, welch schicksalhafte Fragen hier zur Entscheidung stehen, macht die stark föderalistische Strömung in Süddeutschland ersichtlich. Es sagt doch wohl genug, wenn der Führer der bayrischen Sozialdemokraten, Dr. H ö g n e r, als Mindestprogramm ein lockeres bundesstaatliches oder gar staatenbundliches Gefüge verkündet. Es kreisen auch Ideen um die Bildung einer süddeutschen Föderation, welche innerhalb des Gesamtstaates die Führung beanspruchen soll. Anscheinend etwas zentraler ausgerichtet ist die Haltung Schumachers und der von ihm geführten sozialdemokratischen Parteigruppe Norddeutschlands. Das Bestreben aller politischen Kräfte ist es jedoch, die deutsche Politik im Rahmen weniger starker politischer Parteien zu leisten. Sowohl auf sozialistischer Seite wie auf christlich-demokratischer hofft man zum Zweiparteiensystem zu kommen.

Es ist begreiflich, daß die Diskussion über Föderalismus und Separatismus die Öffentlichkeit beherrscht. Die radikalen Zentralisten, zu denen die Kommunisten zu rechnen sind, behaupten — eins bedinge das andere, beziehungsweise die Separatisten suchten sich zwedtmäßigerweise als Föderalisten zu tarnen. Die Kommunisten lehnen auch die Abtrennung der Saar ab und stehen damit in heftigem Gegensatz zu ihren französischen Genossen, die ihre Ansprüche auf Rhein und Ruhr ausdehnten. Die anderen deutschen Parteien sind geneigt, gewisse Zugeständnisse für einen auf föderalistischer Grundlage aufgebauten deutschenStaaten-bund zu machen, aber die Stellungnahme innerhalb der Parteien ist nicht einheitlich. Hier wird erst die'parteieinheitliche Zusammenfassung und Ausrichtung über ganz Deutschland klare Richtlinien schaffen. Daneben gibt es viele andere Punkte der Parteiprogramme, die noch umstritten sind: In der SPD die Frage der Diktatur des Proletariats, in der Christlich-Demokratischen-Union die Stellung zum Sozialismus, zu Kirche und Schule und zur Bodenreform. Dazu formulierte kürzlich Maria Sevenich in der „Neuen Zeit“ Gedanken, in denen es hieß: „Wir bekennen uns zu einem Sozialismus aus christlicher Verantwortung.“ Abei — „der christliche Sozialismus unterscheidet sich ganz wesentlich von demmarxistischenSozialismus. In diesem System ist keine Anthropologie möglich.“ Die rein materielle Betrachtung gehe, so sagt die Verfasserin, an der christlichen Lehre von der Einheit von Geist, Seele und Leib vorbei. — Wegen der engen geistigen Ähnlichkeit der CDU mit der österreidaischen Volkspartei sei hier noch angeführt, was einer der Vorsitzenden der Partei in Berlin, Ernst L e m m e r, einmal über die CDU ausführte: „Sie ist geboren, um in beispielloser Zusammenfassung weltanschaulichund konfessionell früher getrennter Volkskräfte an der Wiedergeburt eines wahrhaft demokratischen Deutsdalands vorbehaltlos mitzuwirken.“

Gegen die Jugend in Deutschland wird von allen Seiten der Vorwurf der Indolenz in politischen Dingen erhoben. Vermutlich zu Unrecht. In der östlichen Zone gibt es nur eine zugelassene Organisation, die alle Parteigruppierungen zusammenfassen soll. Die Vorbehalte gegen eine solche Zusammenfassung bei dem Bestehen von Parteiorganisationen der verschiedenen Richtungen sind in Österreich genügend bekannt. Vielleicht ist hier der Hauptgrund für die b-neigung der Jugend zu suchen, sich in den Jugendgruppen organisieren zu lassen und überhaupt in Aktion zu treten. Einige Jugendzeitschriften, die von den verschiedenen Besatzungsbehörden konzessioniert und betreut werden, suchen auf die Jugendbildung einzuwirken.

Auf dem Gebiete der Schulbildung liegen aus dem russischen Sektor weitreichende Beschlüsse ror. Die zentrale Behörde für Sdiule und Volksbildung hat den Entwurf zu einer Einheitsschule fertiggestellt, die in 12 (statt bisher 13) Jahren zur Universitätsreile führen soll. Der Unterbau ist die adnjährige Volksschule, auf der sich eine vierjährige Mittelschule (ohne gesonderte Vorklassen) aufbaut, Damit wird ein altes Ziel des „Allgemeinen deutschen Lehrervereins“, das bei seiner Gründung um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgestellt wurde, verwirklicht und der Volksschule der beherrsdaende Platz zugewiesen. Damit wird aber der Lehrplan für die oberen Klassen der Volksschule eine wesentliche Änderung erfahren und wahrscheinlich auch eine organisatorische Angliederung, die den Neigungen der Kinder in der Berufswahl entspridat, erhalten.

Bei der großen Menge von Ausschaltungen aus dem Lehrerberuf wegen nationalsozialistischer Zugehörigkeit mußten in kurzer Frist neue Lehrer herangebildet werden. Männer und Frauen aus allen Berufen wurden dazu herangezogen. Sie werden in Verbindung mit dem praktischen Unterricht in achtmonatiger Vorbereitung eingeführt und dann weitergebildet. Der künftige Lehrer soll wieder Universitätsausbildung auf einer pädagogischen Fakultät erhalten. Das sind kühne Pläne und ehrlich begeisterte Männer arbeiten daran. In Deutschlands größter Not soll sein größtes Schulgebäude errichtet werden.

Für die Betreuung des kulturellen Lebens ist ein „Kulturbund für die demokratisdie Erneuerung Deutschland“, einheitlich für alle Parteien, geschaffen worden. Die Leitung führt der Dichter Johannes R. Becher, der die letzten Jahre im Exil in Rußland verbringen mußte. In einer ersten Ausstellung, die dieser Kulturbund im früheren Zeughaus — dem einstmaligen Museum für Kriegsgeräte — veranstaltete, wurde eine Obersicht über das Schaffen der bildenden Kunst gezeigt. Keine ausgesprochene Richtung, keine Verlagerung auf das „Moderne“, nur eine Übersicht über die Arbeiten der heute tätigen Maler und Bildhauer. Getrennt davon arbeitet ein katholisches Bildungswerk unter dem Protektorat des Berliner Kardinals, organisiert Veranstaltungen, Vorträge und Fortbildungskurse. Die kommunalen Verwaltungsorgane betreuen Vofkshodisrhulen und zeigen in Ausstellungen die Arbeiten ihrer in den Bezirken tätigen Künstler.

Die wirtschaftlichen Sorgen überwiegen alle anderen Probleme. Auf ganz Deutschland bezogen, berichtete der bayrische Fi-nanznainister in einem Zeitungsaufsatz: „Die Verschuldung Deutschlands im letzten Krieg ist mehr als doppelt so groß wie die im ersten Weltkrieg“ — dem nachher die grauenhafte Inflation folgte1. „Rechnet man zu den neuen Kriegsschulden“, so fährt der Verfasser fort, „doch das hinzu, was an Schadenersatzansprüchen aller Art geltend gemacht wird, ... so kommt man auf einen Kapitalwcrt, der wenigstens das Zweifache dessen ausmacht, was man zu Beginn des eben beendeten Krieges als sogenanntes Volksvermögen errechnete,“

Eine erste Übersicht über die Aufbau-leistungen wurde in Berlin anläßlich des Jahrestages des neuen Magistrats der Stadt veröffentlicht: Die Untergrundbahn fährt fast bis zu 100 Prozent, die Straßenbahn zu über 50 Prozent. Täglich werden in Berlin 2,8 Millionen Menschen befördert. Von den, städtischen Energiequellen werden die Gaswerke genannt, die hundertprozentig wieder leistungsfähig sind, aber infolge Kohlcnmangels nur beschränkte Zuteilungen liefern, 50.000 Handwerksbetriebe haben in Berlin wieder ihre Arbeit aufgenommen und 1,300.000 Menschen stehen in Arbeit. Der Gesamtwert der Produktion ist seit dem Mai vorigen Jahres von 50 auf 125 Millionen monatlich gestiegen. Im ersten Viertel des laufenden Jahres wurden allein in der Sowjetzone Deutschlands fast 10 Milliarden Bankeinlagen gebucht, das zeigt, wie die „Neue Zeit“ schreibt, eine nicht zu verkennende Belebung der Wirtschaft.

Das Stadtbild Berlins ist mit seinen furchtbaren Zerstörungen mit Wien kaum zu vergleichen. Da die Innenstadt fast restlos zerstört ist, liegen die zentralen Behörden weit verstreut voneinander, eine ungeheuerliche Erschwerung für die Verwaltung und die Bevölkerung. Eines kann abschließend festgestellt werden: Überall fand der Verfasser teilnahmsvolles Verständnis für die Notlage Österreichs und Wiens, deren I.ehensmif telrationen teilweise noch geringer sind als die der Berliner.

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