Freiheit_Nationalismus - © Illustration: Rainer Messerklinger

Die Freiheit, die sie meinen

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Der Nationalismus marschiert im Gefolge von Freiheitskämpfen aus einstigen und heutigen „Völkerkerkern“ jeder Art – und sperrt die von ihm Befreiten gleich selbst wieder ein.

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Der Nationalismus marschiert im Gefolge von Freiheitskämpfen aus einstigen und heutigen „Völkerkerkern“ jeder Art – und sperrt die von ihm Befreiten gleich selbst wieder ein.

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Der Nationalismus ist ein alter Bekannter, ein immer wiederkehrender Gefährte, ein bekannt berüchtigter, zweifelhafter Freund und taucht seit Langem immer dort auf, wo der Ruf nach Freiheit laut wird. Welche Freiheit? „Freiheit, die ich meine, / Die mein Herz erfüllt, / Komm’ mit deinem Scheine, / Süßes Engelbild“, antwortet nebulös die erste Strophe dieses nach der ers­ten Zeile benannten populären deutschen Volkslieds aus 1815, das im Laufe der Jahrhunderte unter nationalen Vorzeichen zum „Vaterlands-, Helden-, Kriegs- und Siegeslied“ mutierte. Nicht zuletzt Jörg Haider ließ sich von dem „deutschen Liedgut“ für den Buchtitel seines politischen Credos ­inspirieren. Was diese Freiheit konkret bedeutet, dazu bleibt das Lied schwammig: Es geht um aufsteigende Sehnsucht, stilles Weben, Treue und Liebe zum alten Stamm. Was die Freiheit kostet, ist hingegen eindeutig: Für die Kirchenhallen, / Für der Väter Gruft, / Für die Liebsten fallen, / Wenn die Freiheit ruft.“ Denn, so die sehr zutreffend mit politischer Kosmetik beschriebene Begründung dafür: „Das ist rechtes Glühen / Frisch und rosenroth: / Heldenwangen blühen / Schöner auf im Tod.“

In den Jugoslawien-Kriegen zwischen 1991 und 2001 „blühten“ zum bislang letzten Mal in Europa „Heldenwangen schöner auf im Tod“. So wie die Konfliktparteien zu Beginn dieser Auseinandersetzungen um Selbstbestimmung und Freiheit die nationale Farbe ausspielten, so versuchten sie im Kriegsverlauf mit ihrem jeweils ethnischen Ass den Gewinn zu sichern, eindeutige Verhältnisse, Grenzen und Staatsvolkszugehörigkeiten zu schaffen. Dass das am Westbalkan nicht gelingen konnte, beschreibt ein in Bosnien-Herzegowina gern erzählter Witz: Fragt die Lehrerin: „Wie viele Einwohner hat unser Land?“ Stille. Nur Ivica zeigt auf: „Ich weiß es, ich weiß es!“ – „Und, wie viele?“ – „Ich weiß nicht“, antwortet der Schüler. „Bravo“, lobt die Lehrerin. „Richtig!“

Nationalisierte Minderheiten

Der Witz gehört zur Sparte „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, denn in den Ländern des Westbalkans sind Volkszählungen oft ernste, bisweilen Furcht auslösende Anlässe, schreibt Courrier des Balkans-Chefredakteur Jean Courrier in Le Monde diplomatique. Mögen die beiden Begriffe Staatsbürgerschaft und Nationalität anderswo mehr oder minder synonym gebraucht werden – „in den Staaten Ex-Jugoslawiens geht jedoch mit der Zählung auch das Bekenntnis, zu welcher ‚Nationalität‘ man sich bekennt, einher“. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo, Albanien, Mazedonien, Montenegro – die Einwohner aller Balkanländer sind mehr oder weniger durchmischt, zählen mehr oder weniger große Minderheiten zu ihren Bevölkerungen. Freiheit kann für alle diese Gruppen etwas anderes heißen, die Freiheit der einen kann sehr schnell auf Kosten der anderen gehen. Schwingen die einen die Nationalflagge, kann das für die anderen sehr schnell bedeuten, sich zu ducken, zu gehen oder schlimmstenfalls vertrieben zu werden.

Mit der Freiheit ist es schwierig. Beispiel Balkan: Schwingen die Serben ihre Flagge, kann das für andere Völker bedeuten, sich ducken zu müssen oder vertrieben zu werden.

Berühmtestes Beispiel für diese Balkan-Mischkulanz ist der als der Serbe schlechthin geltende Slobodan Milošević: Von seiner familiären Herkunft war Milošević Montenegriner. Im Gegensatz zu seinem Bruder Borislav, der als Montenegriner im Staatsdienst Karriere machte, verstand sich Slobodan aber als Serbe und schaffte es in dieser Rolle in die Weltgeschichte: Als serbischer Nationalist und Freiheitsheld sowie Freiheitsverweigerer für die anderen jugoslawischen Teilrepubliken in einer Person. Dass Widersprüchlichkeiten zum nationalistischen Gehabe dazu gehören, zeigt Miloševićs Duz-Freundschaft mit Franjo Tuđjman, seinem Gegenspieler auf kroatischer Seite. Der Gesprächsfaden zwischen beiden Kriegshetzern soll, auch während serbische Truppen Vukovar und Dubrovnik bombardierten, nie abgerissen sein. In den Kriegsjahren trafen sie sich Dutzende Male und das abhörsichere Telefon für ihre „vertraulichen Gespräche“ nannten kroa­tische Medien bitter-ironisch „Slobofon“. Gleichzeitig gab man den eigenen Truppen Schießbefehle auf den serbischen oder kroatischen Feind. Und dass der nationalistische Hass-Stachel noch immer nicht gänzlich gezogen ist, beweisen Fußballspiele zwischen den Mannschaften der Westbalkan-Staaten, wenn die Tribünen zu Schützengräben für Offensiv-Fans mutieren.

„Wenn wir ihn nicht gewollt hätten, dann hätte es keinen Krieg gegeben“, erklärte Tuđjman 1992 auf einer Kundgebung kroa­tischer Nationalisten in Zagreb. Die von Siegesgewissheit getragene Offenheit zeigt den Endbahnhof aller Geleise, bei denen die Weichen für die Freiheitszüge in Richtung Nationalismus gestellt wurden. Schon Karl Kraus warnte davor, als er im nationalistischen Strudel der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts postulierte: „Unsympathisch am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen.“

Die Ironie der Geschichte oder einfach nur der Zufall spielte Regie, als vorige Woche der Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) in Zagreb unweit des Tuđjman-Ehrengrabs über die Bühne ging. Hauptdarsteller war der scheidende EU-Ratschef Donald Tusk, der mit überwältigender Zustimmung (93 Prozent!) zum neuen Chef der christdemokratischen Parteienfamilie auf europäischer Ebene gewählt wurde. Und das mit einer Kampfansage an den ungarischen Minis­terpräsidenten Viktor Orbán und gegen die Politik seiner von der EVP-Mitgliedschaft suspendierten Fidesz-Partei: „Wir werden unsere Werte wie bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Anstand im öffentlichen Leben nicht auf dem Altar von Sicherheit und Ordnung opfern, denn dafür gibt es keine Notwendigkeit, weil beide sich nicht gegenseitig ausschließen. Wer das nicht akzeptieren kann, stellt sich de facto außerhalb unserer Familie.“

Die Freiheitskämpfer von einst

Eindeutige Worte, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, zu dem Tusk am polnischen und Orbán am ungarischen Grenzabschnitt nicht unwesentlich und auf der gleichen Seite kämpfend beigetragen haben. Was ist seither passiert? Wie konnten die Freiheitskämpfer von damals völlig konträre politische Richtungen einschlagen?

Der bulgarische Politologe mit Wiener „Institut für die Wissenschaft vom Menschen“-Residenz, Ivan Krastev, erklärt das Zerwürfnis in einem Essay „Wie Zentraleuropa auf den Orbán kam“ folgendermaßen: „In Zentraleuropa waren die nationalistischen und die liberalen Kräfte so lange Verbündete, wie sie das gemeinsame Ziel verband, den Realsozialismus zu beseitigen.“ Nachdem dieser Feind besiegt war, trennten sich aber die Wege. Und heute? Krastev: „Nach 2000 hofften viele Liberale, den Nationalismus auf dieselbe Weise besiegen zu können, wie sie den Real­sozialismus besiegt hatten. Heute ist diese Hoffnung vergebens. In einer Demokratie kann man den Nationalismus nicht einfach beseitigen. Aber man kann nationalistische Gefühle auffangen und umformen. Nur wenn man dies erkennt, kann man dem wachsenden Einfluss der Nationalisten entgegentreten.“

Dabei helfen könnte, dass in Europa der Nationalismus nicht als Gespenst umgeht, sondern als alter Bekannter, immer wiederkehrender Gefährte und bekannt berüchtigter, zweifelhafter Freund. Oder wie es der neue EVP-Chef als neues Ziel seiner Parteienfamilie ausgab: „Wir müssen das beenden – in einem politischen Kampf können Wahrheit und Würde nicht vollkommen hilflos stehen gegen Fake News, Manipulationen und Hass.“

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