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Eine Religiosität ä-la-carte

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Èuropa wird ein „nachchristlicher" Kontinent, aber mit gesellschaftlich schwachen Kirchen und mit einem starken religiösen Pluralismus.

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Èuropa wird ein „nachchristlicher" Kontinent, aber mit gesellschaftlich schwachen Kirchen und mit einem starken religiösen Pluralismus.

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Believing without Belon-ging", zu deutsch etwa: „Man glaubt, ohne dazuzugehören" - so lautet der Untertitel eines kürzlich erschienen Buchs der Beligionssoziologin Grace Davie über die religiöse Entwicklung in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg. Es spricht vieles dafür, daß sich diese Kurzformel für den Normaltyp heutigen religiös-kirchlichen Verhaltens über Großbritannien hinaus auf weite Teile Europas anwenden läßt. Alle einschlägigen Untersuchungen und Umfragen der letzten Jahre belegen nämlich ein Zweifaches: In den meisten europäischen Ländern versteht sich die Mehrzahl der Menschen zumindest in einem unbestimmten Sinn als „gläubig" oder „religiös"; aber nur eine Minderheit beteiligt sich aktiv am kirchlichen Leben und unterhält eine feste Bindung an eine Kirche oder Beligionsgemeinschaft.

Die reinen Zahlen sagen über das religiöse Profil des heutigen Europa nicht sehr viel, zumal es keine einheitlichen Kriterien gibt, nach denen in den einzelnen Ländern Kirchenzugehörigkeit festgestellt wird. In Schweden hat die Lutherische Staatskirche Hunderttausende von nichtge-tauften Mitgliedern; in England unterscheiden die Anglikaner zwischen „getauften Mitgliedern", deren Zahl sich nur schätzen läßt, und „Kirchenmitgliedern" im engeren Sinn, die in die Wählerverzeichnisse der Pfarreien eingetragen sind. In den Ländern des früheren Ostblocks gibt es noch kaum verläßliche Zahlen über religiös-kirchliche Zugehörigkeiten.

Aber soviel steht fest: Europa ist, von einigen Ländern und Landesteilen (etwa Tschechien oder der früheren DDB) abgesehen, nach wie vor ein christlicher Kontinent in dem Sinn, daß die Mehrzahl der Menschen in irgendeiner Beziehung zum christlichen Glauben und zu einer christlichen Kirche steht. Der Islam ist zwar in Ländern wie Deutschland, Frankreich und England inzwischen eine zahlenmäßig ansehnliche religiöse Minderheit, aber er ist doch weitgehend eine Einwandererreligion, die nur in geringem Umfang für Einheimische attraktiv ist. Die Zahl der festen Anhänger asiatischer Beligionen (vor allem Buddhismus, aber auch Hinduismus) ist weit kleiner als die der Muslime. Für das allgemeine religiöse Bewußtsein spielt Asiatisches inzwischen aber eine nicht zu unterschätzende Bolle, jedenfalls in bestimmten Bevölkerungsschichten.

Das „christliche" Europa ist in sich natürlich ungemein vielgestaltig. Nationale und konfessionelle Prägungen aus der Vergangenheit wirkte bis heute nach. Italien ist nach wie vor ein ausgesprochen „katholisches" Land, in dem andere Kirchen und Religionsgemeinschaften nur eine marginale Bolle spielen. In den skandinavischen Ländern gehören fast alle Bewohner nominell der lutherischen Staats- beziehungsweise Volkskirche an, während der Anteil der „Praktizierenden" beziehungsweise „Gläubigen" besonders gering ist. Deutschland oder die Schweiz sind noch immer vom Nebeneinander katholischer und protestantischer Milieus geprägt, auch wenn sich die Unterschiede zwisehen diesen Milieus deutlich abgeschliffen haben. Seit der Wende von 1989/90 sind die von der Orthodoxie geprägten Länder Europas mit ihrer spezifischen Form von Kirchlichkeit neu ins Blickfeld geraten.

Ungeachtet aller Unterschiedlichkeit und Vielfalt gibt es aber doch auch übergreifende Trends und Entwicklungen, zwei davon sind besonders signifikant, der Bückgang der Kirchlichkeit und die - weniger quantitative als bewußtseinsmäßige - Plu-ralisierung der religiösen Landschaft. Stichwort Kirchlichkeit: Die Zahl der Katholiken, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, ist in den letzten beiden Jahrzehnten in einem rein katholischen Land wie Spanien ebenso zurückgegangen wie in konfessionell gemischten Ländern (Deutschland, Niederlande). Protestantische Minderheitskirchen (etwa in Frankreich) sind ebenso von Auszehrungsprozessen betroffen wie protestantische Mehrheits- beziehungsweise Volkskirchen.

Stichwort Pluralisierung: Quer durch die europäischen Länder hat eine ä-la-carte-Mentalität an Boden gewonnen. Der einzelne wählt aus dem vielfältigen religiös-weltanschaulichen Angebot das aus, was ihm von seinen Erwartungenund Bedürfnissen her am ehesten entgegen kommt. Die Wahrheitsfrage tritt dabei deutlich zurück gegenüber dem Kriterium der Brauchbarkeit. Das religiöse Profil von immer mehr Menschen wird unscharf, kennt fließende Übergänge zwischen Beligiösem und Säkularem, zwischen Beligion, Lebenshilfe und Therapie. Dadurch verliert der religiöse Faktor gesamtgesellschaftlich an Bedeutung, auch wenn er für den einzelnen unter Umständen wichtig bleibt.

Auf diesem Hintergrund lassen sich mit der gebotenen Vorsicht einige Prognosen für die weitere Entwicklung der Beligiosität in Europa wagen. Es sind zum einen keine gravierenden Veränderungen bei den religiös-kirchlichen Zugehörigkeiten zu erwarten. Wo nur eine Minderheit einer Kirche angehört, wird es aller Voraussicht nach keinen massiven Zustrom geben. Wo die Zahl der nominellen Kirchenmitglieder derzeit relativ hoch ist, wird sie vermutlich weiter zurückgehen, aber kaum in dramatischem Ausmaß. Der zahlenmäßige Zugewinn von nichtchristlichen Beligionen einerseits und Sekten andererseits dürfte sich auch in absehbarer Zukunft in Grenzen halten.

Mit einiger Sicherheit wird sich überall in Europa das religiöse Spektrum weiter ausdifferenzieren. Es wird viele Menschen geben, deren Bindung an die christliche Tradition schwächer wird als heute, aber auch solche, die den Glauben für sich neu oder wieder entdecken. Andere - vermutlich deutlich mehr - werden es bei einem Nebeneinander von alltäglicher Säkularität und diffusen religiösen Sehnsüchten belassen.

Europa wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein „nachchristlicher" Kontinent bleiben oder es noch stärker werden: mit christlichen Prägungen durch Kultur und Ethos, aber mit gesellschaftlich eher schwachen Kirchen und einem hohen Grad an bewußtseinsmäßigem religiös-weltanschaulichem Pluralismus. Es wird aber kein „multi-religiöser" Kontinent im Sinn einer massiven Gewichtsverlagerung zugunsten nichtchristlicher Religionen.

Der Autor ist

Chefredakteur der „Herder Korrespondenz " in Freiburgj Breisgau

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