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Notstand in Uruguay

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Anziehungskraft auf alle Interessens-gemeinschaften und auf Sondervorhaben bedachten Gruppen aus, die Sich mit ihnen amaigamieren, zeitweise verbünden und sowohl mit ihnen operieren als auch mit sich operieren lassen.

Zu spät!

Zu spät ergriffen Männer wie der mutige und gescheite Rubin das Wort. Seine These vom „Tag der Wahrheit“ hätte, um Jahre früher aufgestellt und angewandt, aus der FDP tatsächlich eine Partei machen können, die sich vor der Zukunft nicht fürchten mußte. Denn ausgehend von den zunächst nur real-politischen Erkenntnissen Rubins, daß das Jahr 1945 eine Zäsur darstellt, die auf lange Sicht unveränderbare Grenzen und Bedingungen schuf, wäre die Partei alsbald zu der notwendigen Einsicht gelangt (die beispielsweise auch in der CDU/CSU nur schwach und in der SPD kaum stärker verbreitet ist), daß dieser letzte Krieg nacht bloß allgemein politische Folgen zeitigte, die unübersehbar sind, sondern auch nahezu alle Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, ja, diese selbst strukturell Völlig veränderte. Von dieser Einsicht bis zu dem Entschluß, im 20. Jahrhundert nicht mehr das Instrumentarium des 19. zu gebrauchen, wäre es nicht mehr weit gewesen, und auf diesem Wege hätte die FDP (unter vielleicht mitunter schmerzlichem Verzicht auf Augenblickserfolge und -vorteile) eine Rolle einnehmen können, die mit jedem Schritt in die Zukunft an Bedeutung gewonnen hätte.

Nun, nach Mendes Abgang und auch so schon reichlich spät, scheint es, daß sich die Rubins dennoch keine bessere Position in der Partei zu erringen vermögen. Das Kaderund Funktionärsvolk orientierte sich lieber auf Scheel, der unbestreitbar ein Mende-Typ ist, wenn auch von geringerer Empfindlichkeit und größerer Anpassungsgabe. Das Professoren- und Beamtenteam der FDP mißtraut dem Ungewohnten. Es setzt auf List, Kniffe und Rhetorik. Und auf seiner Seite steht der Schein des Richtigen, wenn argumentiert wird, daß man in einem Augenblick des merklichen Populari-tätsschwundes nicht auch noch selbst Unpopuläres verkünden dürfe. In der Industrie, in welcher Rubin und seine Leute selbst führende Positionen einnehmen, gelten sie als Außenseiter. Die soziale Realistik, von der sie reden, enthält ihren Standesgenossen zu viele Risfcen und Unwägbarkeiten, Und selbst wo man des Abends an Kaminen von den neuen Ideen schwärmt, zwingt einen das tägliche Geschäft des Morgens zur Opportunität. Das Geschäft bringt es so mit sich...

Ein Verlust

Das Absinken der FDP ist für die deutsche Demokratie unzweifelhaft ein Verlust. Sie wird eintöniger und 'bestimmbarer im Sinne von mani-puläerbar. Das Spiel verläuft nach routinemäßigen Vorteilsregeln. Was dabei an Geist verloren geht, wird durch Konsum nur schiecht ersetzt.

Man könnte sagen, daß ein Teil der Ideen Rubins heute zum Bestandteil der Politik der Regierung geworden ist. So sei es noch einigermaßen zu verschmerzen, daß die FDP an Funktionswert verliere. Aber die Gefahr aller großen Koalitionen besteht darin, daß sie, konkurrenzlos geworden, alsbald darin nachlassen, das weiterhin ganz ernsthaft zu betreiben, was sie anderenfalls aus Furcht, ins Hintertreffen zu geraten, nicht vernachlässigen dürften.

Die eingangs gesteilte Frage, ob nun Mende oder die FDP am Ende ist, läßt sich verhältnismäßig leicht beantworten: offenkundig beide. Das muß nicht heißen, das die FDP nicht einen neuen Anfang zu finden vermöchte. Der aber liegt nicht dort, wo sie bisher stand, und auch nicht in der mehr oder weniger selbstgefälligen Rolle einer kritisierenden Opposition, Ihre Chance liegt vielmehr in einer zeitkritischen, gesellschaftskritischen und in einer stellvertretend für alle Deutschen auch selbstkritischen Haltung, aus der sich eine völlig neue Orientierung der Partei auf Zukünftiges ergibt.

Und das ist das Seltsame: Darin liegt auch die einzige Chance für die Parteien der großen Koalition. Wenn sie sich darin nicht selbst übertreffen oder von anderen übertreffen lassen, wird die Bundesrepublik mit einem Male ein nur noch schwer zu verstehendes und schließlich unnützes politisches Relikt sein.

Die Verhängung des Ausnahmezustandes in Uruguay ist de~ Höhepunkt einer chronischen Spannung zwischen Regierung und Gewerkschaften. Sie wirft die Frage auf, ob der kleine superdemokratische Pufferstaat zwischen Argentinien und Brasilien in Gefahr ist, von

dem Sog der Militärdiktaturen in den beiden Nachbarstaaten mitgerissen zu werden, oder ob umgekehrt die Möglichkeit einer castroistischen Revolution besteht.

Die „Convenciön Nacionai de Trabajadores“ (CNT), der Nationalkonvent der Arbeiter, repräsentiert nicht nur etwa 250.000 Industriearbeiter, sondern auch die ungefähr 250.000 Beamten und arbeitet mit der Organisation der 325.000 Rentner und der Studentenorganisation auf das engste zusammen. 366 Gewerkschaften bildeten vor einem Jahr die CNT als Dachverband. Sie konnten die sogenannte „Einheit der Arbeiterschaft“ nur dadurch schaffen, daß — theoretisch — eine Diktatur der Zentrale und die Abhängigkeit von der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde. So verbieten die Satzungen, daß die CNT einem bestehenden internationalen Verband, in diesem Falle dem Prager Weltverband, bestritt, und erklären, daß die „Gewerkschaftsdemokratie“ und dlie „Unabhängigkeit von Staat, Arbeitsgebern, politischen Parteien und politischen oder ideologischen Sekten“ garantiert wird. Die „Mesa Representa-tiva“, die Delegiertenversammlung, kann nicht selbst Streikbeschlüsse fassen, sondern sie nur den angeschlossenen Verbänden vorschlagen. Während sonst in Uruguay strenge Gesetze oft mißachtet werden, haben diese flexiblen Statuten zu der Bildung der stärksten „Pressure-group“ geführt Das beruht auf der „Klassenkampfmentalität“, die an die Gesinnung erinnert, die man in Preußen in Bismarcks Ära zur Zeit der Sozialistenkämpfe beobachten konnte. Der Uruguayer ist fanatischer Demokrat und lehnt Militärregierungen leidenschaftlich ab; aber sein Staatsbewußtsein ist gespalten. Nach seiner Auffassung hat der Staat für ihn zu sorgen, sei es, daß er ihm unentgeltlich ein langjähriges Studium an der Universität zur Verfügung stellt, ihn — ohne Vorbildung — als Beamten anstellt oder ihn schon mit 50 Jahren voll pensioniert. Er sieht aber sogar in diesem bis weit über seine Kräfte entwickelten „Wohlfahrtsstaat“ seinen Klassenfeind. Seine Solidarität gilt der Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Deshalb macht er Streiks auch dann mit, wenn er sie für grundlos und schädlich hält.

Streit mit Berechnung

Ein Teil der Streiks freilich ist berechtigt. Gerade der Staat zahlt dia Gehälter oft mit großer Verspätung und nicht selten erst nach einem Streik. Auch hinken die Löhne weit hinter den Preisen her, die bei der alarmierenden Inflation in den ersten acht Monaten 1967 um mehr als 70 Prozent gestiegen sind Streiks sind so häufig geworden, daß sie mit europäischen Mahnbriefen verglichen werden könnten. Sie haben den Charakter eines äußersten Kampfmittels völlig eingebüßt. So duldete die Regierung, daß Uruguay einen Monat ohne Post blieb, abwechselnd die Fleischarbeiter den staatlichen Schlachthof

(„Frigoriflco Nacionai“) und die Studenten ihre Fakultäten besetzten. Mehr als drei Monate erschienen acht der bestehenden neun Tageszeitungen nicht.

An der Spitze der politischen Streiks lagen die Staatsbankbeamten. Als vier von ihnen sich

weigerten, Exportanträge aufzunehmen, und eine Gewerkschaftsversammlung während der Dienstzeit in den Amtsräumen abgehalten wurde, verfügte das Direktorium Disziplinarmaßnahmen, auf die mit Überraschungsstreiks und „Arbeit nach Reglement“ geantwortet wurde.

Als nunmehr automatische Gehaltsabzüge für Stredktage festgesetzt wurden, unternahmen die 15.000 Angestellten der Privatbanken eine Solidaritätsaktdon, mit der sie praktisch das uruguayische* Wirtschaftsleben lahmlegten. Die Regierung veranlaßte das Eingreifen der Strafjustiz, aber die Beamten der Gerichtsverwaltung weigerten sich — aus Solidarität mit den Bankbeamten —, sachgemäße Zeugenvernehmungen vorzunehmen. Dies war der Tropfen, der das Wasser zum Uberlaufen brachte.

Daraufhin verhängte die Regierung das Notstandsrecht, in dessen Rahmen Streiks, Streikpropaganda und Versammlungen verboten wurden.

Das Risiko von Neuwahlen

Der Generalstreik, der bereits vor diesem Dekret ausgerufen worden

war, wurde trotzdem stark befolgt. Der städtische Verkehr, die Arbeit im Hafen, die Tätigkeit in den Staatsgesellschaften, vor allem aber auch in allen Banken, wurde unterbrochen. Die Regierung nahm zahlreiche Verhaftungen vor, von denen aber nur 90 aufrechterhalten blieben. Nach der Verfassung muß sie das Notstandsdekret und die Liste der Verhafteten der „Asamblea General“ (beiden Häusern des Parlaments) binnen 24 Stunden vorlegen, die es aufheben kann. Es entspricht der uruguayischen Parlamentspraxis, daß das Haus bei kritischen Beschlüssen beschlußunfähig bleibt. Unter dieser Voraussetzung bleibt das Notstandsdekret in Kraft. Obwohl fünf Minister des linken Flügels der Regierungspartei („Colorados“) zurücktraten, dürfte sich keine Mehrheit für die Aufhebung des Dekrets finden, zumal der rechte Flügel der Oppositionspartei („Blancos“) ihr auch nicht zustimmen dürfte. Weiter wollen auch die Parlamentarier das Risiko vermeiden, daß der Präsident Neuwahlen ausschreibt.

Keine Militärdiktatur!

Man nimmt im allgemeinen an, daß der Präsident Gestido durch die Umbildung des Kabinetts die starke Fraktion der Liste 15 unter Dr. Jorge Batlle, die zur Zeit nicht in der Regierung vertreten ist, zurückruft und das Ausscheiden der linken Minister, die für die „dirigierte Wirtschaft“ eintraten, zur Wiederaufnahme der unterbrochenen Beziehungen mit dem Weltwährungsfonds führen könnte. Es

ist dem Präsidenten Gestido jedenfalls zu glauben, daß er unbedingt auf dem Boden der Verfassung bleiben will. Weder die Offiaiere noch die Polizei sind auch geneigt einigen Generälen, in denen manche die zukünftigen Diktatoren zu sehen glauben, zu folgen.

Trotz des Chaos und des Ausnahmezustandes ist in Uruguay eine Militärdiktatur auf keinen Fall zu erwarten.

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