Warschau

Ukrainer in Polen: Eine Zukunft auf Zeit

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Mit 1,5 Millionen Menschen hat Polen europaweit die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Doch angesichts der Kriegsdauer und der galoppierenden Inflation im Land macht sich bei der Bevölkerung Hilfsmüdigkeit breit. Ein Ortstermin.

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Mit 1,5 Millionen Menschen hat Polen europaweit die meisten ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Doch angesichts der Kriegsdauer und der galoppierenden Inflation im Land macht sich bei der Bevölkerung Hilfsmüdigkeit breit. Ein Ortstermin.

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Warschau, Dworzec Gdański, der „Danziger Bahnhof“. Ein paar Kilometer vom Zentrum der polnischen Hauptstadt entfernt gelegen, erlangte dieser Bahnhof einst traurige Berühmtheit. Diese hängt mit Flucht oder eher mit Vertreibung zusammen. So verließen in den Jahren 1968 und 1969 von hier aus tausende polnische Jüdinnen und Juden per Zug das Land, weil sie Opfer einer antisemitischen Kampagne des kommunistischen Regimes waren. Von der Staatsführung des pro-israelischen und westlich-imperialistischen Zionismus bezichtigt, verloren damals tausende polnisch-jüdische Lehrer, Ärzte, Juristen und selbst Schauspieler ihre Arbeit.

Etwa 13.000 Jüdinnen und Juden reisten damals in Richtung Westeuropa, Israel und USA aus – ohne die Möglichkeit der Wiederkehr. Heute hört man am „Gdański“ allenthalben neben dem Polnischen vor allem die ukrainische Sprache. In Polen leben derzeit etwa hundertmal mehr ukrainische Geflüchtete, als es seinerzeit polnisch-jüdische Vertriebene gab. Von einer erzwungenen Ausweisung dieser rund 1,3 Millionen Menschen ist gegenwärtig keine Rede. Dennoch hat Polens Parlament (Sejm) Mitte Dezember in einer ersten Lesung Restriktionen bei der bislang sehr großzügigen Aufnahme von Ukrainer(inne)n beschlossen – mit großer überparteilicher Stimmenmehrheit. Es geht um eine etwas schärfere Handhabung der bislang liberalen Aufenthaltsbestimmungen sowie um eine finanzielle Selbstbeteiligung der Flüchtlinge an den Kosten ihrer Unterkunft, die nach vier Monaten Aufenthalt im Land ab kommendem Frühjahr fällig werden soll. Letzteres ist nicht nur den hohen Kosten geschuldet, die dem polnischen Staat die Hilfe für die Ukraine verursacht – nach Schätzungen des staatlichen Thinktanks „Polnisches Ökonomie-Institut“ (PIE) belaufen sich die öffentlichen Zahlungen bislang auf zirka 3,5 Milliarden Euro, die militärische Hilfe auf zwei Milliarden und die Leistungen, die Privathaushalte alleine in den ersten Monaten seit Kriegsausbruch aufbrachten, auf rund 2,3 Milliarden. Auch befürworten die meisten Pol(inn)en – die eine hohe Inflation, massiv steigende Miet- und Energiepreise erleben – laut Umfragen inzwischen die den Ukrainern auferlegte Kostenbeteiligung.

Wohnungen werden knapp und teuer

Doch Hilfsorganisationen, die an der Basis mit Geflüchteten arbeiten, sehen das anders. „Viele der Schutzsuchenden haben schlicht nicht das Geld für diese Teilfinanzierung, das könnte zu Obdachlosigkeit führen“, sagt etwa Karina Melnytska. Seit drei Jahren arbeitet die gebürtige Ukrainerin für die Stiftung „Ocalenie“ (dt.: Rettung), die seit gut zwei Jahrzehnten für Belange von Migrant(inn)en und Flüchtenden aus aller Welt aktiv ist. Das Warschauer „Hilfe-Zentrum für Migranten“ von Ocalenie liegt im Zentrum der Stadt, seit Kriegsausbruch ist die Zahl der festen Ocalenie-Mitarbeiter wie auch der Freiwilligen hier und an anderen Standorten sprunghaft um mehrere Dutzend gestiegen. Denn der Hilfebedarf ist riesig: „Die Wohnungsfrage ist derzeit unsere Hauptsorge. Wohnungen sind schon schlicht nicht in ausreichender Zahl vorhanden, die Preise sind in die Höhe geschossen“, sagt Meltynska, die vor zehn Jahren zum Studium nach Warschau kam und blieb. In diesem Jahr wurde Warschau wohl europaweit zu derjenigen Stadt, in der die meisten ukrainischen Schutzsuchenden Zuflucht fanden.

In den ersten Monaten des Krieges lebten zeitweilig bis zu 300.000 Geflüchtete in der Stadt, eine beachtliche Zahl selbst für eine zuvor gut 1,8 Millionen Einwohner zählende Metropole. Das Gros nutzte die Stadt zwar als Transitort – auch weil sie hier einen Anknüpfungspunkt ob zehntausender bereits ansässiger Ukrainer(innen) hatten.

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