6765006-1968_31_04.jpg
Digital In Arbeit

Versöhnung mit Nachbarn

Werbung
Werbung
Werbung

Kein Platz für nationalistische Denkkategorien in Europa

Während der Pfingstfeiertage habe ich die Bundesregierung auf dem 19. Sudetendeutschen Tag in Stuttgart vertreten und auf dem Po- merntag in Köln, anläßlich des 20jährigen Bestehens dieser Landsmannschaft, gesprochen. Beide Veranstaltungen haben in der Öffentlichkeit ein lebhaftes Echo gefunden. Besonders kritisch sind die Stimmen, die aus Polen und der Tschechoslowakei zu hören sind; dort wendet man sich vor allem gegen Dinge, die ich nicht gesagt habe, phantasiert darüber, daß ich geheime Angriffspläne der Bundesregierung offenbart hätte. Es ist wieder einmal bezeichnend, daß das, was ich in meinen beiden Ansprachen als politisches Konzept für die Lösung der Probleme vertreten habe, nicht kommentiert, ja gar nicht zur Kenntnis genommen wird. Wahrscheinlich paßt es nicht in die vorgefertigte Propagandaschablone. Der Grundgedanke in beiden Reden war, daß die Europäer nicht mehr in den nationalistischen Denkkategorien verbleiben dürfen, die das Gesicht Europas im 19. und am Anfang unseres Jahrhunderts bestimmten und die soviel Unheil angerichtet haben. Kein politisches Problem in Europa darf heute mehr nach diesen Denkkategorien beurteilt werden, wenn seine Lösung ein positiver Beitrag für die Zukunft sein soll.

Wenn man, wie das die Bundesregierung mehrfach erklärt hat, Frieden und Versöhnung auch mit den Nachbarn im Osten erstrebt und das als eine der Versöhnung im Westen gleichrangige historische Aufgabe betrachtet, muß man auch hier den europäischen Weg beschrel- ten, der zur Versöhnung mit den westlichen Nachbarn führte.

In diesem Sinne wandte ich mich gegen die Erneuerung eines heute schon anachronistischen Nationalismus in Polen und dagegen, daß den Deutschen eine Lösung der Grenzprobleme unter den Maßstäben nationalstaatlicher Machtpolitik des 19. Jahrhunderts auf gezwungen werden soll. Mit einer Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ist für eine europäische Friedensordnung und für die

Aussöhnung der beiden Völker nichts gewonnen, sie käme vielmehr den Großmachtinteressen der Sowjetunion entgegen. Das kann nur zu einer Eskalation weitergehender sowjetischer Forderungen werden.

Die Alternative, vor der wir stehen, heißt also nicht: Anerkennung der Oder-Neiße-Linie oder Nichtanerkennung, sondern: Rückfall in das nationalstaatliche Denken vergangener Jahrzehnte oder Anstreben einer europäischen Friedensordnung, in der sich jede Nation angemessen entfalten und selbst verwirklichen kann und in der zugleich Nationalstaatsgrenzen ebensowenig eine entscheidende Rolle spielen wie Nationalitätengrenzen.

Es ging mir darum, die unfruchtbare und unser Volk entzweiende Alternative Anerkennung-Nichtanerkennung durch den Aufruf zu einem neuen Denken zu überwinden, das konstruktiv und auf eine für alle tragbare friedliche Ordnung für das zukünftige Europa gerichtet ist. Denn das ist allen Verantwortlichen heute klar: Ohne die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands, insbesondere Polens und der Tschechoslowakei, wird die europäische Friedensordung nicht geschaffen werden können. Ich habe auf die auch bei den Vertriebenen vorhandene Bereitschaft zur Versöhnung und zum Gespräch hingewiesen und habe wiederholt, daß die Bundesregierung bereit ist, zu einer Lösung der Probleme beizutragen:

• Wir wollen keine gewaltsame Rückeroberung dieser Gebiete. Jede

Vertreibung von Menschen ist Unrecht. Niemand will eine Vertreibung der dort lebenden Polen. Deshalb können wir aber, wenn wir überhaupt konsequent und glaubwürdig bleiben wollen, die Vertreibung nach 1945 nicht als rechtmäßig sanktionieren. Eine endgültige Entscheidung über die Grenzen zwischen Polen und Deutschland kann also nicht heute getroffen werden, weil dies nur im Rahmen einer Gesamtlösung aller Probleme möglich ist

• Eine europäische Friedensordnung, der auch kommende Generationen auf beiden Seiten zustimmen können, muß auf dem Gedanken des Rechts aufbauen und setzt daher einen fairen Ausgleich der Interessen voraus. Deshalb habe ich gesagt, daß die Bundesregierung keine Regierung der Anerkennung und des Verzichts ist, denn wir wollen uns die Möglichkeit, zu Verhandlungen zu kommen, nicht durch vorzeitige Erklärungen dieser Art verbauen.

• Unser Wille zum Gewaltverzicht und zur Verständigung darf allerdings nicht als Bereitschaft zur Selbstaufgabe verstanden werden. Die deutsche Nation hat wie jede andere Nation das Recht auf Selbstbestimmung. Jedem Deutschen steht das Recht auf seine Heimat ebenso selbstverständlich zu, wie es jedem Tschechen und jedem Polen zusteht.

• Wenn sich daraus Überschneidungen oder Widersprüche ergeben, so müssen sie im Geiste der Nachbarschaft durch einen wechselseitigen Ausgleich gelöst werden. Wer einfach Unterwerfung fordert, sucht nicht den Frieden; ebensowenig dient dem Frieden, wer einseitig Verzichte anbietet.

Mit einem Diktatfrieden, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht achtete, hat Europa zu schlechte Erfahrungen gemacht, als daß man ein neues Versailles wünschen könnte. Der Aufruf an die Regierungen unserer östlichen Nachbarn, sich der gemeinsamen Verantwortung für den Frieden ln Europa bewußt zu sein, sollte nicht mit Verdächtigungen und feindseliger Polemik beantwortet werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung