WTC911 - © Foto: APA / AFP / Seth Mcallister

Wie 9/11 die Welt veränderte

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20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September: Was hat der Krieg nach außen und nach innen mit unserer Gesellschaft gemacht? Über die Weltangst in der Globalisierung und die Verlustgeschäfte der Freiheit.

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20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September: Was hat der Krieg nach außen und nach innen mit unserer Gesellschaft gemacht? Über die Weltangst in der Globalisierung und die Verlustgeschäfte der Freiheit.

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George W. Bush ist ein netter alter Herr. Er hat im Juli seinen 75. Geburtstag gefeiert und er gibt gerne Interviews über die lustigen Geschenke, die ihm seine Enkeltöchter machen. Außerdem hat er Joe Biden die Stange gehalten, als der von Donald Trump und seinen wildgewordenen Republikanern angegriffen wurde. Donald Trump sei, so bemerkte ein Kolumnist der Washington Post spitz, eigentlich ein großes Glück für George W. Bush. Denn er müsse nun nicht als unbeliebtester Präsident in die Geschichte eingehen. Als ein Präsident, der vor 20 Jahren zwei fatale Kriege in Afghanistan und im Irak begann, letzteren noch dazu unter Lügen und falscher Propaganda. Es sind Kriege, die hunderttausende Menschenleben gefordert und den Westen gespalten und nachhaltig geschädigt haben. Aber danach wird George W. Bush heute nicht mehr gefragt.

Tapezierermesser-Kamikaze

Historische Erinnerungen können also zuweilen auch ein Ort der Vergebung sein. Vor allem, wenn so viele Nachgeborene die Ereignisse des 11. September 2001, die zu all dem führten, nur noch aus Erzählungen kennen, deren Fakten immer noch unbegreiflich scheinen: Ein Trupp von Islamisten konnte, bewaffnet mit Tapezierermessern, Flugzeuge kapern, mit denen sie Kamikazeflüge in New York und Washington unternahmen und unter anderem die Türme des Worldtrade-Center zum Einsturz brachten. 2996 Menschen starben an diesem Tag vor 20 Jahren.

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Will man die Konsequenzen begreifen, beleuchtet man gewöhnlich die Zeit nach 9/11, die Sicherheitsmaßnahmen, die Kriege, das bis heute dauernde Chaos im Nahen und Mittleren Osten. Aber das wahre Ausmaß der Verluste wird erst erkennbar, wenn man einen Blick auf die Zeit vor 9/11 wirft. Also auf die 1990er Jahre, in der die Globalisierung der Warenströme und der Aufstieg des World Wide Web ihre Triumphe gefeiert hatten. Die Welt war nach Ansicht vieler auf dem Weg zum multikulturellen Dorf, so jedenfalls formulierten das die Apologeten einer neuen Ordnung.

Tatsächlich stand auch Europa mitten in einem epochalen Entwicklungsschub: der Eingliederung des ehemaligen Ostblocks in die EU, der Einführung einer gemeinsamen Währung. 2001 trafen Europas Bürger und Regierungen in einem Europäischen Konvent zusammen, um eine neue Union und eine neue Form der Governance zu erschaffen. Und auf globaler Ebene war der Klimaschutz 1998 in Kyoto endlich in ein internationales Übereinkommen gegossen worden. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der Überwindung von Grenzen und Traditionen. Diese neue Welt war bunt und frei - zumindest dem Konzept nach. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die letzten Diktaturen gebrochen und die Demokratie siegen würde. Der Politikwissenschafter Francis Fukuyama schrieb vom „Ende der Geschichte“, in dem sich das Zeitalter der Kriege in einer Hegemonie des Westens und der westlichen Werte auflösen würde.

Erst die Antiterrorpolitik nach 9/11 hat Samuel Huntingtons Phantasie vom Clash der Zivilsationen Wirklichkeit werden lassen.

All das war mit 9/11 beendet. Die Welt wurde mit einem Mal gefährlich, dystopisch, katastrophal. Das war in der ersten Reaktion verständlich. Aber dass sie so geblieben ist, liegt daran, dass so viele Regierungen, Unternehmen und Bewegungen daran mitarbeiteten.

Von großen Würfen ist heute keine Rede mehr, die Währungsunion von inneren Krisen geschwächt, die Erweiterungsstaaten vom Anti-Liberalismus regiert. Die einst zukunftsfrohe Bürgergesellschaft findet sich als Abgesang auf elitäre Kongresse zurückgedrängt, Teile davon sind ins Lager der AfD und der Staatsgegner abgedriftet. Man erobert einander nicht mehr mit kulturellem Reichtum und Menschenrechten, man kollidiert. In diesem Sinn hat die Politik tatsächlich Samuel P. Huntingtons Vision vom „Clash der Zivilisationen“ verwirklicht und globalisiert: Er lässt sich deklinieren von Bagdad bis Kabul, von den Uigurenlagern in China bis zu den Flüchtlingslagern im Libanon und der Türkei, letztlich auch bis zur Flüchtlingsabwehrpolitik der aktuellen österreichischen Bundesregierung.

Auf gewaltsame Art und Weise verschieben sich seit 9/11 zwei Ebenen gegeneinander wie tektonische Platten: die Globalisierung der Warenströme, die weiter intensiviert wurde, gegen die politische Abschottung der Staaten, die mit der Flüchtlingskrise 2015 noch verschärft wurde.

Vergangene Woche zeigte sich Huntingtons Vision recht eindrücklich beim Strategischen Forum der EU in Bled, bei dem eigentlich über die Zukunft der EU geredet werden sollte. Tatsächlich gesprochen wurde aber über Flüchtlinge und wie man sie fernhalten könne. Die Stars in der Clash-Manege waren unter anderen Kroatiens Andrej Plenković, der das Motto des Treffens unter Applaus wie folgt definierte: „Das ‚Wir schaffen das‘ Angela Merkels ist vorbei.“ Und Ungarns Premier Viktor Orbán ergänzte, die größte Gefahr für Europa seien die Muslime.

Daten gegen Sicherheit

Hinter den üblichen Feindbildern verschwindet die wohl folgenreichste politische Entwicklung nach 9/11: der größte Scan der Bevölkerung durch die Geheimdienste in der Geschichte. Allein in den USA wurden zu diesem Behufe nach 9/11 200.000 Arbeitsplätze in NSA und Heimatschutzbehörde geschaffen.

Mehr als bisher sollte diskutiert werden, ob die immense Datensammlung tatsächlich Sicherheit bringt. Immerhin passierten und passieren die meisten Attentate – darunter jene in Berlin, Nizza oder Wien und zuletzt auch jenes vergangene Woche in Neuseeland – unter den sehenden Augen der zuständigen Behörden. Es sind nicht geisterhafte Unbekannte, die sich plötzlich zum Terrorakt aufmachen, sondern bekannte Gefährder, die unzureichend verfolgt werden. Es geht in diesem Sinn nicht um fehlende Informationen, sondern um Behörden, die zu wenig miteinander kommunizieren oder einfach bei den Vorbereitungen der Radikalen zusehen. Das galt in gewissem Sinn schon für die Attentate vom 11. September und die Hinweise des FBI auf die Attentäter.

So gesehen müssten die Behörden nicht noch mehr Daten absaugen dürfen; man müsste hingegen von ihnen verlangen, ihre Arbeit besser zu tun. Rückblickend auf das, was seit 2001 geschah, würde man letztlich zu dem Schluss gelangen können, dass sich der Westen die Sicherheits-Zwangsjacke, die er seinen Gesellschaften übergestülpt hat zum Großteil hätte sparen können.

Von Welt- zu Kleinbürgerei

Parteipolitisch hat der Einkehrschwung von der Welt- in Richtung Kleinbürgerei nach 9/11 alle Bewegungen erfasst, auch jene, die sich als internationale und liberale Bewegungen gaben. 9/11 brachte in diesem Sinn keine neue, sondern eine alte Zeit zurück, ein Gesellschaftsmodell, das noch mit der Illusion der absoluten Sicherheit arbeitet, die Karl Popper einst mit einer „geschlossene Gesellschaft“ in Verbindung brachte.

Tatsächlich stammt die treffendste Charakterisierung für die Zeit nach 2001 aus Poppers 1944 erschienenem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, in dem er den Weg in totalitäre Strukturen beschreibt: Es gäbe da „eine herrschende Klasse von Hirten und Wachhunden, die streng vom menschlichen Herdenvieh geschieden werden“ sowie eine „Kollektivisierung aller Interessen“: „Eine Zensur muss die gesamte intellektuelle Tätigkeit kontrollieren“. Daran wird man erinnert, wenn man die unter der Flagge des Antiterror-Regimes verwirklichte Informationskontrolle betrachtet und die Verfolgung von Kritikern des Systems, unter anderen Edward Snowden und Julian Assange.

In diesem Sinn wäre auch die Frage angebracht, ob gerade in diesem Punkt aus der Geschichte gelernt werden kann – indem etwa Maßnahmen zurückgenommen werden, die sich in den vergangenen Jahren als überzogen oder falsch herausgestellt haben.

Wenn sich die historischen Analysen zum 11. September nicht in halb nostalgischen, halb dystopischen Reminiszenzen verlieren sollen, muss endlich an einer solchen Gewinn- und Verlustrechnung der Antiterror-Politik nach 9/11 gearbeitet werden. Vielleicht bestünde dabei letztlich auch die Möglichkeit, an Projekte anzuknüpfen, die die Globalisierung auch im Sinn einer Globalisierung von Werten und Freiheiten gedacht hatten. Erst wenn das gelingt, hätten Osama bin Laden und seine Nacheiferer ihren Krieg gegen den Westen verloren und George W. Bush könnte sich besseren Gewissens seiner alten Tage erfreuen.

Dieser Text erschien in der FURCHE 36/2021 unter dem Titel "Die geschlossene Gesellschaft und ihre Freunde".

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