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Rote Vorhut im Schwarzen Erdteil

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Man kann den schlafenden Westen nicht oft und nicht intensiv genug auf die Vielfalt kommunistischer Eroberungstaktik aufmerksam machen. Die Weisen im Kreml verstehen es gut, gerade dort neue Erfolge vorzubereiten, wo das beobachtende Auge der Weltöffentlichkeit fehlt. So ist jetzt wieder, da alles auf das sowjetische Spiel im Nahen Osten blickt, eine Großaktion anderer Art in ihren Anfängen im Gange. Es ist die Aktion Afrika, von der Aegypten nur geographisch ein Teil ist.

In Afrika sind in den letzten Monaten folgende Aktivitäten Moskaus zu registrieren: Im Juni 1956 wurden die sowjetische Gesandtschaft in Addis Abeba und die äthiopische Gesandtschaft in Moskau wechselseitig in den Rang von Botschaften erhoben — nachdem kurz vorher Bulganin eine Reihe artiger Höflichkeiten an Haile Selassies Adresse ausgesprochen hatte. Mit dem Sudan hat die Sowjetunion unmittelbar nach seiner Unabhängigkeitserklärung im Jänner 1956 diplomatische Beziehungen aufgenommen; im Mai 1956 wurde der sudanesische Handelsminister in der Sowjetunion herzlich empfangen. In Liberia ist im Februar 1956 eine Sowjetdelegation eingetroffen, um die Amtseinführung des neuen liberischen Präsidenten Tubman in dessen Hauptstadt Monrovia mitzufeiern. Mit Libyen hat die Sowjetunion im September 1955 die diplomatischen Beziehungen aufgenommen; an der Spitze ihrer Gesandtschaft in Tripolis steht gegenwärtig ein ausgezeichneter Professor für Orientalistik. Die Unabhängigkeitserklärung von Marokko und von Tunis im April 1956 wurde vom Kreml mit offiziellen Glückwunschtelegrammen an den marokkanischen Sultan und an den tunesischen Bei sowie mit Artikeln in der „Prawda“ quittiert.

Die offiziellen Freundlichkeiten der Sowjetunion gegenüber dem Schwarzen Erdteil sind, wie alles Geschehen im Lebensraum des dialektischen Materialismus, von wissenschaftlich-politischer Studientätigkeit begleitet. Festzustellen bleibt, daß Afrika in früherer Zeit nicht gerade im Mittelpunkt des geopolitischen Interesses der Sowjets stand und von ihnen stark vernachlässigt worden ist. Eine Beschäftigung mit Afrika, wie sie Hitler-Großdeutschland im Zenit seiner Machtentfaltung unter dem Schlagwort „Eurafrika“ propagiert hat, war in der Sowjetunion bis in die jüngste Vergangenheit unbekannt. Gewiß bestand seit Kriegsende eine kleine, auf afrikanische Fragen gerichtete Forschungsgruppe am Ethnographischen Institut der Moskauer Akademie der Wissenschaften; sichtbare praktische Ergebnisse dieser Forschungsgruppe sowie des Institutes für Orientalistik datieren aber erst seit dem Jahre 1953. Es handelt sich dabei vor allem um zwei größere bibliographische Werke, ein allgemeines und ein spezielles. Das erste, in Mockau 1954 erschienen, führt den Titel „Narody Afriki“ („Die Völker Afrikas“) und ist ein Sammelwerk der Arbeiten verschiedener Wissenschaftler, geographisch und geschichtlich und mit ausgiebigem Kartenmaterial ausgestattet; die Sonderstudie stammt aus der Feder eines gewissen I. I. Potechin und behandelt die „Bildung des nationalen Gemeinschaftslebens der südafrikanischen Bantustämme“. An kleineren Werken sind je ein Geographiebuch über Aethiopien und über Libyen herausgekommen, ferner ein paar populärwissenschaftliche Broschüren über verschiedene afrikanische Wissensgebiete; auf dem Arbeitsprogramm des Ethnographischen Instituts findet man auch die Herausgabe von Wörterbüchern der drei größten afrikanischen Negersprachen, Bantu, Hausa und Suaheli. Am Moskauer Institut für Orientalistik sind einige Studenten angemeldet, die sich als Doktorarbeiten afrikanische Themen vorgenommen haben. Direkt von Regierungsseite sind dem Ethnographischen Institut Forschungsaufgaben über Afrika südlich der Sahara, dem Institut für Orientalistik solche über Aegypten, Algerien und Marokko übertragen worden.

Das bisherige Ergebnis der sowjetischen wissenschaftlichen Arbeit über den Schwarzen Erdteil: Es wird versucht, im historischen Sektor eine hohe Entwicklungsstufe der afrikanischen Eingeborenenvölker seit längster Zeit nachzuweisen. Das Negerkönigreich Mono-motapa, das sich im 16. und 17. Jahrhundert auf dem Gebiete des heutigen Rhodesien befand; die Reiche der Ghana, Mali und Songhai im westlichen Sudan werden sehr positiv gewürdigt — die normale Entwicklung der Stämme zu Völkern im heutigen Sinn konnte, laut der sowjetischen Forschung, infolge der imperialistischen Ausbeutung nicht stattfinden. Die nationalen Befreiungsbewegungen, die sich heute all-, überall auf dem afrikanischen Kontinent geltend machen, sind, laut sowjetischer Terminologie, durch den Erfolg der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917 „ermutigt“ worden.

Den nationalen Befreiungsbewegungen gegenüber haben die Kommunisten ihre taktische Einstellung erst im Jahre 1955 geändert, wie aus der wissenschaftlichen Literatur Moskaus über Afrika dieser letzten Jahre ersichtlich ist. Entstalinisierung? Lenin wie Stalin haben immer wieder die Meinung vertreten, nationale Freiheitsbewegungen unterdrückter oder unentwickelter Völker müßten ihre nationale Bourgeoisie wie die Pest meiden, weil diese nationale Bourgeoisie immer wieder bereit wäre, sich mit fremden Imperialisten auf Kosten des eigenen werktätigen Volks zu einigen. Noch 1953 wurde zum Beispiel König Idris von Libyen in einem Moskauer Buch wegen seiner Beziehungen zu den Imperialisten schwer angegriffen; „Narody Afriki“, 1954 erschienen, ist noch eindeutig gegen die nationalen Bourgeoisien der afrikanischen Völker eingestellt. In der Praxis sind die Sowjets aber, wie die obenstehenden Beispiele diplomatischer Aktivität Moskaus in Afrika 1955 und 1956 zeigen, zur Taktik des liebenswürdigen Zusammengehens mit den nationalen Bourgeoisien abgeschwenkt, entsprechend der Formel des neuen sowjetischen Außenministers Schepilow: „Kommunisten sind prinzipielle Gegner sektiererischer Beschränktheit und setzen sich dafür ein, daß sich die Bemühungen der gegenwärtig bestehenden Massenbewegungen aller Arten und Schattierungen zu einem antiimperialistischen Strom vereinigen.“ Um in Afrika eindringen zu können, nehmen die gegenwärtigen Herren des Kremls auch schwarze Bourgeois, schwarze Feudalherren und schwarze Könige zu zeitweiligen Bundesgenossen an.

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