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Als Zeitreisender im T-Shirt bei Schnitzler

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In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich mit sich selbst zusammen." Diesen Satz Martin Heideggers stellt Hartmut Lange seinem Novellenband „Schnitzlers Würgeengel" als Motto voran. Doch einzig in der Titelnovelle wird der Begriff des „Unheimlichen" seiner konventionellen Bedeutung des Düsteren und Geheimnisbergenden gerecht. Das Erzähler-Ich, das sich anfänglich wie ein vertrauter Zeitgenosse Schnitzlers benimmt, entpuppt sich bald als besonderer Gast, nämlich als Zeitreisender, was Schnitzler interessiert zur Kenntnis nimmt: „Er musterte mich, ihm war die Art, wie ich mich kleidete, fremd, und besonders das Aufgedruckte auf meinem T-Shirt schien ihn zu interessieren. Es waren einige Worte auf Englisch."

Die Gegenwart, gekleidet in ein T-Shirt, hält Einzug in das Haus in der Sternwartestraße. Wie deplaziert sie dort ist, lassen sie Schnitzlers verschrobener Gärtner und die geheimniskrämerische Haushälterin spüren. Auf mystische Weise sind sie mit dem altersschwachen Dichter verbunden. Wodurch, das verrät dieser dem Gast: „Es ist ein Würgeengel im Haus." In einem Photoband läßt der Autor seine Figur noch einmal auf Schnitzler stoßen. Die Bilder zeigen den österreichischen Schriftsteller so, wie er seinen Gast empfangen hat, oder ist doch alles Einbildung gewesen?

Anders als in der Titelnovelle geht Hartmut Lange in den übrigen Geschichten („Herr Semmering", „Die Mauer im Hof", „Der Himmel über Golgatha") der Bedeutung des Unheimlichen auf den Grund. Der Begriff wird von seiner herkömmlichen Konnotation abgelöst und langsam zu seiner ursprünglichen Bedeutung rückgeführt.

Doch Geduld ist bei den Büchern dieses Autors oberstes Gesetz für den Leser. Mit seiner unmanierierten Sprache bindet Lange seine Leser langsam, aber sicher an seine Geschichten. Ohne große Umschweife, ohne langmächtige Erklärungen stellt er seine Figuren in bestimmte Szenen hinein und den Leser vor offene Ausgänge. Erst sukzessive wird klar, was es heißt, wenn Herr Semmering, der pensionierte Beamte, anstatt einer Urlaubsreise einen Platz im Altersheim bucht, oder wenn er sein Geld an Obdachlose verteilt. Nach und nach erkennt man, was es bedeutet, wenn sich ein Feature-Autor plötzlich in notorische Schweigsamkeit hüllt, nachdem die Mauer in seinem Hof renoviert worden ist und kein Laut mehr aus den verputzten Löchern dringt. Langsam glaubt man zu verstehen, was es heißt, wenn Hans-Peter Ludwig vor Jerusalem nur den Himmel beobachtet und dabei die Orientierung verliert.

Eines haben Hartmut Langes Figuren gemeinsam: Sie sind buchstäblich dem Unheimlichen anheimgefallen, unaufhaltsam wird der Begriff des Unheimlichen zum offenen Pseudonym für Heimatlosigkeit. Und genau da wird die Heideggersche Folie sichtbar, denn was bleibt dem von seiner Heimat abgetrennten Individuum noch anderes übrig, als sich auf sein eigentliches Dasein zu beschränken. Das einfache Sein, versetzt ins Unheimliche, wird damit zum Katalysator von Langes Novellen, die in der Tat das Lesen lohnende, unerhörte Geschichten sind.

SCHNITZLERS WÜRGEENGEL

Von Hartmut Lange. Diogenes Verlag, Zürich 1995. 142 Seiten, geb., öS 23),-

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