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Die Demokratie und ihre Runzeln

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Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens. Von Winfried Martini. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 369 Seiten. Preis 12.80 DM

„Bestechende Diagnose — gefährliche Therapie“: diesen Titel setzten wir vor Jahresfrist über ein Referat, das dem zur Diskussion anregenden Buch Erik Kuehnelt-Leddihns „Freiheit oder Gleichheit?“ gewidmet war. Nun, Erik Kuehnelt-Leddihn hat inzwischen Sukkurs erhalten! Winfried Martini verficht in dem vorliegenden Buch beinahe haargenau dieselben Thesen: Freiheit gegen Gleichheit. Die Demokratie bestehe aus zwei Komponenten: der freiheitlichen und der jakobinischen. In der modernen Massendemokratie schrumpfe die freiheitliche Komponente immer mehr zusammen und ein immer ungenierter auftretendes Jakobinertum gewinne Raum. Die weitere Folgerung: „der rote und der braune Totalitarismus sind nur eine Folge der Mechanik, welche die Demokratie in Gang gesetzt hat“ (S. 166).

So weit die Hauptthese Martinis, die er, übrigens im Gegensatz zu Kuehnelt-Leddihn, nicht schadenfroh und mitunter hämisch, sondern eher besorgt und traurig vorträgt Hat er doch seine eigenen bitteren Erfahrungen. So beschwor der Autor seiner-

zeit in den entscheidenden Wahlgängen der Weimarer Zeit zionistische Sozialdemokraten, für Brüning und sein Regime der Notverordnungen zu stimmen, in dem er — mit Recht — den letzten Riegel vor der Machtergreifung Hitlers sah. Vergebens. Der „selbstmörderische Widerspruch der Ideologien“ war stärker.

Winfried Martini ist also keineswegs ein zynischer Verächter oder gar ein geschworener Feind der Demokratie, sondern eher ein in seiner Liebe betrogener Sohn. Deswegen ist auch sein Anliegen, „die Kritik endlich jenen zu entreißen, die sie nicht aus Einsicht, sondern aus dumpfen Ressentiments, aus politischer Unbildung oder aus dem diabolischen Drang heraus betreiben, die absolute Gewalt nur zu dem Zwecke zu gewinnen, ihre Umwelt zu verknechten“ (S. 7).

Ein ehrliches Motiv, ein gutes Motiv. Auch kann kein nüchtern denkender Mensch achtlos an den latenten Gefahrenquellen der Demokratie in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorübergehen. An Schulbeispielen dafür hat es keinen Mangel — auch nicht in Oesterreich. Ueberzeugt einen der Verfasser also nicht selten in seiner Diagnose, so ändert sich die Situation, ähnlich wie bei Kuehnelt, wenn die Sprache auf die Therapie kommt.

Wenn die fortschreitende Demokratisierung des Wahlrechtes als ein „umgekehrter Zensus zur Erschwerung der Wahl von Gebildeten“ (S. 103) genannt wird, so ist dies sehr geistreich; allein es dürfte keinen gangbaren Weg zurück zur Hono-ratiorenpolitik des 19. Jahrhunderts geben. Gefährlich wird es schon, wenn der Autor in dein Kapitel „Der überfragte Wähler“ — ebenfalls sehr gescheit — die Ueberforderung der breiten Wählerschichten an verschiedenen Exempein erläutert und in das Lob der Wahlenthaltung als einem „Zeichen der Aufrichtigkeit“ der Demokraten ausbricht. An einer solchen „Aufrichtigkeit“ hätten zum Beispiel in den verschiedenen Wahlgängen des letzten Jahrzehnts in Oesterreich die Kommunisten ihre helle Freude gehabt.

Die Gretchenfrage aber ist, was nun an die Stelle dieser für mannigfache Gefahren so anfälligen Demokratie gesetzt werden soll. Vor ihrer Beantwortung ist Kuehnelt-Leddihn seinerzeit in sein schon reichlich mystisches Gedankengebäude von einem „königlichen Freistaat“ geflüchtet. Martini hingegen bekennt konkret Farbe. Er verschweigt nicht, daß er sich vom Experiment Salazar „relative Sicherheit“ verspricht. Für Portugal, ist man versucht, ergänzend hinzuzusetzen und auf die Unmöglichkeit einer Uebertragung des „Estado Novo“ hinzuweisen. Unter einer anderen Sonne als der portugiesischen würde das System zweifelsohne sehr bald andere, härtere Konturen annehmen. Ganz abzusehen davon, daß solch ein Umbau nicht ohne schwere innere Kämpfe vor sich gehen könnte. Die ideale Situation für die Totalitarismen von links und rechts, um nachzustoßen. Das ist keine Schulweisheit, das haben wir alle gerade hierzulande schon einmal erlebt.

Freilich geziemt es sich auf der anderen Seite nicht, in demokratische Selbstzufriedenheit zu verfallen. Gar viel hat tatsächlich zu geschehen, um — mit den Worten Martinis gesprochen — die „freiheitliche Komponente“ in der Demokratie zu festigen. Auch in Oesterreich ist diese Aufgabe gestellt. Die Ausbildung eines echten Zweiparteiensystems, verbunden mit einer Reform des Wahlrechtes, die der Persönlichkeit wieder das ihr gebührende Recht gibt, stehe hier bei all diesen Ueberlegungen im Vordergrund. Daneben ist noch viel Kleinarbeit zu leisten. Aber dies alles sind Fragen der Innenarchitektur und nicht der Spitzhacke und der Neukonstruktion. Vor Trümmern sind wir schon zu oft gestanden.

Immer wieder fällt uns das Wort Robert Ingrims ein: „Echte Demokraten sollen der Demokratie ergeben sein, trotz deren Schwächen, und sie nicht leugnen, genau so wie Männer ihre Mütter lieben — trotz ihren Runzeln.“

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