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Bundesrepublik Deutschland-ein „Spielstaat“?

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Einer der interessantesten politischen Publizisten in der Bundesrepublik Deutschland, Winfried Martini, untersucht in seinem neuesten Werk die „Lebenserwartung der Bundesrepublik“. Mit den von ihm am heftigsten angegriffenen „dünnblütigen devitali-sierten Intellektuellen* (S. 131), eben mit jener westdeutschen „Intelligentsija“ (in der Martini, wie diese seine Bezugnahme auf die russische Intelligenz, die den Kommunismus vorbereitete, zeigt, Wegbereiter des Chaos sieht), ist der hochintelligente Intel] ek-' tuelle Martini der Überzeugung: in der Bundesrepublik Deutschland stimmt sehr vieles nicht. Auch Martini bemerkt das „unheimlich dichte System der Selbsttäuschungen, dem unser soziales und staatliches Leben unterworfen ist“ (S. 3 85). Viele Schleier, nicht zuletzt eines euphorischen Wirtschaftswunderoptimismus', verbergen Abgründe: eine abgründige innere Schwäche der Bundesrepublik. Martini untersucht, wie seinerseits sein großer Lehrer und sein Vorbild, Carl Schmitt, die geheimen und offenkundigen Schwächen der Weimarer Republik untersucht hat, die rechtlichen, politischen, gesellschaftlichen und mentalen Strukturen der Bundesrepublik und kommt dabei zu folgenden Ergebnissen: die Weimarer Republik war, verglichen mit der Bundesrepublik, ein starker Staat. „Vierzehn Jahre lang einer kaum ununterbrochenen Existenzkrise widerstanden zu haben: das war das .Wunder' von Weimar. Wahrhaftig, wir haben keinen Grund, auf die Erste Republik herabzusehen. Denn dieses Wunders wären wir nicht fähig; nicht vierzehn Jahre, sondern vielleicht drei Monate könnten wir uns halten“ (S. 404). Martini sieht im „Unter-bau (der Bundesrepublik) tiefe Risse“. Dieser Staat ist ein „Spielstaat“, geschaffen „im Zustande totaler Verantwortungslosigkeit“ 1949 durch den Parlamentarischen Rat. Er ist nicht für den Ernstfall bestimmt, sondern kann sich nur im Schutze der amerikanischen Besatzungstruppen behaupten. — So Martini. In Pankow und Moskau wird man interessiert diese Thesen des rechtskonservativen deutschen Publizisten zur Kenntnis nehmen. — Spätestens ab 1963 wird „die Präsenz der amerikanischen Divisionen zu einem Streitobjekt der'amerikanischen Innenpolitik werden. Mit Sicherheit führt diese Kontroverse eines Tages zum Rückzug der Truppen aus Europa. Überschätzen wir fahrlässig die Frist, die uns noch geschenkt ist, dann kann sie nur allzuleicht zur Galgenfrist werden“ (S. 410).

Was ist zu tun? Die Bundesrepublik braucht möglichst schnell ein Notstandsrecht, „das den Namen verdient“; diesem Lieblingsprojekt der Minister Schröder und Franz Joseph Strauss, in denen offensichtlich Martini die fähigsten politischen Köpfe der Bundesrepublik sieht, zwei Dioskuren, wobei er wohl Strauss als künftigen Kanzler im Auge hat (S. 86) — vielleicht ist dieses Buch auch geschrieben, um dessen Kanzlernachfolge vorzubereiten —, gehört ein zentrales Interesse Martinis, es tritt genau in der Mitte seines Werkes, ab S. 215, in den Vordergrund. Martini sieht mit Respekt auf Adenauer, auf „das Unglück Adenauer“ herab; seine an seine Person gebunden Autorität verschleiert den institutionellen Autoritätsmangel, „eine der zentralen Schwächen unseres Staates“; Adenauer hat diesen „Ersatzstaat“ auf seine Person hin zugeschnitten (S. 352)! „Er neigt nicht zur Reflexion, seine Intelligenz ist bei aller Schärfe und Hellsichtigkeit doch einschichtig“ S. 219). „Natur und Alter tun das Ihre, um den Kanzler Dinge wie Menschen aus der Distanz und ohne sonderliche Wärme betracltten zu lassen.' Dieser Mann sieht „Programme als eine Unterhaltung für Leute an, von deren Tätigkeit ohnehin wenig abhängt“ (S. 220). Völlig verfehlt und ein Verhängnis für Deutschland wäre es, wenn Ludwig Erhard die Nachfolge Adenauers antreten würde. Martini weiß (und er weiß alles, „absolut“ — ein Lieblingsbegriff Martinis), daß dieser hochachtbare Mann nicht nur keine politischen Erfahrungen besitzt, „sondern auch, daß er ihrer gar nicht fähig ist; denn um politische Erfahrungen zu machen und zu verwerten, bedarf es vor allem eines inneren Zugangs zum Politischen: doch eben der fehlt Erhard, wie nahezu alle seine Äußerungen erkennen lassen“ (S. 151). „Erhard selbst kann man, obwohl er seine Kandidatur mit beträchtlichem Eifer betrieb, kaum einen Vorwurf machen. Denn er hat, wie jeder andere Bürger auch, ein R\echt darauf, zum Politischen keinen inneren Zugang zu besitzen: das ist kein Makel“ (S. 152). In diesem Stil wird der Mann „fertig gemacht“, der eben jetzt — einige Monate nach dem Erscheinen von Martinis Buch — als Stellvertreter Adenauers in Berlin und anderen deutschen Städten hochpolitische Reden, gar nicht dumm, gehalten hat... Man muß diese innerpolitischen Absichten Martinis im Auge behalten, will man sein hochbeachtliches Werk verstehen.

In zum Teil meisterhaften Analysen untersucht Martini die innere und äußere Stärke der Sowjets. „In vier Jahrzehnten hat der Bolschewismus Unfaßbares geleistet“ (S. 31). „Als wahrhaft Gläubige sind die Bolschewisten nicht gesinnungslos und also auch nicht korrumpierbar: daher lassen sie steh von ihrem Ziel, die .Veränderung' der Welt durch ihre totale Beherrschung herbeizuführen, nichts abhandeln“ (S. 34). „Es wäre tödlich, die Gläubigkeit, die Qesinnungsfesügkeit und die Unbestechlichkeit des Bolschewismus zu unterschätzen“ (S. 37). Sehr richtig erkennt Martini einen grundsätzlichen Unterschied der bolschewistischen Führer von Hitler: sie sind keine Romantiker der Gewalt wie dieser, Macht und Gewalt sind für sie kein Selbstzweck (S. 57). Martini erkennt auch: „Nur deutsche Narren können es den Westmächten zur Last legen, daß sie sich 1941 mit der UdSSR verbanden und ihr Hilfe leisteten: dieses Bündnis hatte Hitler erzwungen“ (S. 410). (Dieser Satz gehört österreichischen Narren, die sich übrigens gerne auf Martini berufen, ins Stammbuch.) Martini sieht auch richtig, daß die „SBZ“, die sowjetische Besatzungszone, wie er zumeist die DDR nennt, von Tag zu Tag eine für die Bundesrepublik gefährlichere Größe wird, so daß er sie, im Ernst der Auseinandersetzung endlich auch als das anspricht, was sie ist, ohne Gänsefüßchen: die DDR, der zweite deutsche Staat (S. 331 ff.), der fest entschlossen ist, politisch und militärisch sich eine Jugend und Generation heranzubilden für den Kampf um ganz Deutschland. Mit Recht sieht Martini, wie dieser politischen Entschlossenheit gegenüber westdeutsche Bundesbürger in politischer Hinsicht eine klägliche Figur machen. Der Staat ist hier weithin abgedankt, verfemt, „demontiert“, ein „privatisierter Staat“, in dem die großen Interessenverbände die Macht an sich genommen haben. Viele kluge Bemerkungen finden sich hier, in den Schaubildern und Analysen der Situation in der Bundesrepublik. Mutig befaßt sich Martini auch mit „Irrlehren der Wiedervereinigung“, mit der „gesamtdeutschen Mausefalle“, mit dem unverantwortlichen Gemisch von Phrasen, Dummheit, Wirklichkeitsfremdheit, das in den Reden von „Wiedervereinigern“ explosiv hochkommt.

Dieser überaus kluge Kopf Winfried Martini, der so viele Halbheiten und Hohlheiten, falsche Ressentiments und „Legenden“ durchschaut, Tabus angreift und zerstört, ein Meister der Analyse, ist leider selbst ein Opfer einer deutschen Krankheit und baut auf dem Trümmerfeld der von ihm zerschlagenen Legenden, Tabus und Illusionen seine Klischeevorstellungen auf. Martinis Krankheit, et teilt sie mit erlauchten Köpfen: er hat es mit dem „Absoluten“. Das „sowjetische Imperium“ ist „unser absoluter Feind“ (S. 21) und ein Martini weiß „mit absoluter Sicherheit“, daß es in der Bundesrepublik keine Renazifizie-rung gibt (S. 274). Nur die unselige Linksintelligenz — sein Trauma: „Die Welt steht links“ (S. 270 ff. — eine kühne Behauptung, heute, 1960) — malt immer noch „das braune Gespenst“ an die Wand (S. 274 ff.). Auf Grund dieser beiden „absolut“ sicheren Gewißheiten kommt Martini zu schwerwiegenden Folgerungen. Es gibt nur eine Gefahr von links. Auf dieser mächtigen Linken stehen viele SPD-Leute, westdeutsche Presse und Rundfunkanstalten, ein Heer impotenter Intellektueller (Martini sieht nicht ganz, wie sehr er in der Überspitzung seiner Thesen selbst einem alten Intellektuellenlaster verfallen ist), und viele Gutgläubige, die mit der Infiltration der Bundesrepublik durch die Spione und Funktionäre Moskaus und Pankows unwissentlich kollaborieren. Martini sieht diese Gefahr riesengroß. „Die Bundesrepublik kann im Schlafe überwältigt werden“ (S. 304), durch einen Handstreich beherzter Männer, da weder Polizei noch Bundeswehr eingreifen dürften. Natürlich kann so ein Handstreich nur von links kommen, mit keinem Satz gesteht Martini eine Gefahr von rechts zu: und dies angesichts des steigenden Drucks, der in riesenhaften Massenkundgebungen von Ver-triebenenverbänden von ehrgeizigen Sprechern auf die Bundesregierung ausgeübt wird. Martinis einfaches Rezept ist: die Bundesregierung braucht sofort eine Notstandsgesetzgebung, einen Umbau der heillosen Verfassung von 1949 (zu diesem Zweck stellt er Hindenburg als ein Opfer seiner Verfassungstreue dar, in einer Studie, in der nahtlos Richtiges und Falsches ineinander verwoben ist). Bonn braucht dazu einige starke Männer, die zum Handeln entschlossen sind (siehe oben), und vor allem eine Bundeswehr, die in der Öffentlichkeit stark in Erscheinung tritt und den Wehrwillen des an sich gesunden Volkes und der gesunden Jugend, die sich nach Bindung und Autorität sehnt, stärkt (S. 366 ff.). Martini schildert treffend die Angst und die Ängste in der Bundesrepublik, die innerste Unsicherheit angesichts der „defensiven“ Politik des Westens, er schildert so auch die Ängste der CDU/CSU: „Die Partei ist von vielen Ängsten verschiedene? Herkunft zerrissen: die Angst

vor der Macht des Ostens, die Angst vor der Notwendigkeit, den deutschen Kredit im Westen zu erhalten, die Angst vor der SPD, die Angst vor den Wählern. Doch sie ist zusammengehalten von einer übergeordneten Angst: der Angst vor Adenauer, die eine Angst, ihn zu verlieren, und zugleich eine Angst, ihn zu behalten, ist“ (S. 150). Angesichts von so vielen deutschen Ängsten möchte man hierzulande der. österreichischen Schwesterpartei, der ÖVP, zu-mindest einige .he'ilsame, konstruktive Ängste wünschen — etwas von dem, was Martini, als politische ' Haltung fördert: einen „konstruktiven Pessimismus“ (S.412), der bewußt auf den feigen und falschen Scheinoptimismus, in den man sich einlullt, verzichtet. Schade nur, daß Martini, im Banne seiner eigenen Klischees, zur Überwindung dieser großen Angst in der Bundesrepublik, die einigen großen Lügen entspringt, nur so ein dürftiges und fragwürdiges Rezept bereit hält: Notstandsrecht, Bundeswehr, ein, zwei starke Männer. Für ihren notwendigen. Kampf um Selbstbehauptung, um wahre innere und äußere Freiheit wird die Bundesrepublik und Deutschland in den kommenden Generationen weit mehr und anderes nötig haben: nicht zuletzt eine neue Erziehung und Menschenbildung, und eine Änderung der gesamten Bewußtseinslage in Wahrnehmung der Verpflichtungen in einer Welt — einer Welt schwieriger Freunde und Gegner — leben zu müssen. Diese großen und notwendigen inneren Änderungen können aber nicht ohne die von Martini vielfach denunzierten „Intellektuellen“ und so manche politisch andersdenkende, unbequeme Kritiker (auch sie, wie ihr Fachgenosse Martini), erkämpft und langsam erarbeitet werden. Martini will eine „offensive“ Bundesrepublik. Offensiv, aber wie, mit welchen Waffen? Das ist die Frage. Für die künftigen Kämpfe reichen NATO und andere militärische Bünde einfach nicht aus, sind als solche auch vielfach ungeeignet. Martini fordert: „Wir müssen .. die große Kapitulation aller Nichtkapitu-lanten bilden, aus den Reihen der CDU/CSU, der SPD, der Unternehmerschaft und des DGB. Wir müssen aus ihren Positionen alle Kapitulanten verdrängen, aus den Reihen der CDU/CSU, der SPD, der Unternehmerschaft und des DGB. Das sind die Fronten, das sind die Gegensätze, auf die es allein noch ankommt. Dann werden wir das Volk hinter uns haben: es dürstet darnach. Nur dann auch wird unsere Freiheit nicht mehr eine Freiheit auf Abruf sein, sondern eine Freiheit aus eigenem Recht und aus eigener Kraft. Nur dann gewinnen wir jene Qualität, die im politischen Leben so viel bedeutet: den Bündniswert“ (S. 416). Diese Sätze könnten in einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Franz Joseph Strauss stehen. Sind sich dieser sehr kluge Mann und sein kluger Winfried Martini aber nicht im klaren, daß sie nur einen Haufen reaktionärer Gesellen und ein allerdings sehr willfähriges Volk, anfällig für alle demagogische Verführung, um sich scharen und produzieren würden, verließen sie sich auf eine so enge, einseitige, kurzsichtige und von eigenen Ressentiments verstellten Optik, wie sie hier, in diesem Buch, leider so oft den Blick trübt? Bonn — ein Spielstaat? Das Spiel um die Machtübernahme ist in vollem Gange: auch für diesen Einblick müssen wir Martini danken.

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