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Digital In Arbeit

Die einsame Masse

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Von David Riesmann in Zusammenarbeit mit Reuel Denney und Nathan Glazer. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Uebersetzt von Renate Rausch. Mit einer Einführung von Professor H. Schelsky. Hermann-Luchterhand-Verlag, Darmstadt, 504 Seiten.

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Von David Riesmann in Zusammenarbeit mit Reuel Denney und Nathan Glazer. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Uebersetzt von Renate Rausch. Mit einer Einführung von Professor H. Schelsky. Hermann-Luchterhand-Verlag, Darmstadt, 504 Seiten.

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Die amerikanische Gesellschaft hat, bedingt durch die Art ihrer Entwicklung und als Folge ihrer Transparenz, für uns den Charakter eines gigantischen Modells. Ist doch das Geschehen in den USA irgendwie Vorbild auch der Gesellschaft des westlichen Europas, die ebenso wie der Osten Europas, ja sogar China, in einem Prozeß unaufhaltsamer Amerikanisierung begriffen ist. Daher ist eine Darstellung der US-amerikanischen Gesellschaft gleichzeitig eine, wenn auch nur bedingt gültige Prognose für die westeuropäische Gesellschaft von morgen. In den USA sind die ökonomischen Expansionen, die mit erheblichen Reallohnsteigerungen je Arbeiter verbunden sind, geeignet, verbunden mit der gewachsenen Freizeit, die den Massen in den USA verfügbar geworden ist, die Struktur der Gesellschaft, ihre hierarchische Ordnung völlig zu wandeln. Die Gesellschaft in den USA ist nicht mehr Klassengesellschaft im alten Sinn, sondern stellt sich uns als eine Verzahnung von Ititeressen- verbänden dar, die, wenn auch je für sich im Besitz von Macht, im Verlauf einer „Machtspaltung“ zu einem Machtgleichgewicht hingezwungen werden.

Ehedem war auch in den USA — mehr als in Europa — der Arbeitsvollzug im Zentrum der gesellschaftlichen Aktivität gestanden, wenn auch die

Arbeit als solche kein menschliches Anliegen gewesen war. Die Freizeit war ein Privileg (freilich ein weithin ungenutztes) der Besitzbürger. Heute ist die Masse in das freie Feld der Freizeitengagements eingeströmt und kann sich dort, vermöge einer gewachsenen Kaufkraft, spontan betätigen. Die Freizeit wird für das „arbeitende Volk“ zu einem „Bereich, in dem die Lebenskunst kultiviert und vervollkommnet werden kann“ (431). Dadurch aber sind notwendig Lebensart und Bedürfnisbefriedigung, die Beziehung zum Einkommen und zur Berufsarbeit, andere geworden. Vor allem die Berufsarbeit verliert ihre lebensmächtige Bestimmungskraft, das Vergnügen oder die zwecklose Arbeit im Hobby legen die Leitlinien des Massendenkens fest, ebenso die Konsumvorbilder, die an die Stelle der klassischen Vorbilder, der Helden der Arbeit und des ökonomischen Erfolges, getreten sind, wenn sie auch nicht die Position von Führern einnehmen.

Die Verbraucherhaltung ist die vorherrschende geworden, das Zeitalter der Produktion geht in jenes des Konsums über (33 , die Freizeit-Gewaltigen haben die Industrie-Gewaltigen abgelöst (322).

Wenn die Phasen der Entwicklung der US-Gesell- schaft besonders drastisch sichtbar zu sein scheinen, so deswegen, weil es in den Staaten eher als anderswo ein einheitliches und für den Zweck' der Darstellung geeignetes typisches Verhalten der bestimmenden Mehrheit der Verbraucher gibt. Die

Gruppen haben sich Gemeinsamkeiten, einfach aus der Erfahrung, angewöhnt. So sind Verhaltenskonformitäten entstanden, welche für die Gesellschaft repräsentativ sind, um so mehr als es keine herrschende Klasse im alten Sinn gibt und daher auch keine Verbraucherelite. Es ist daher eher aus dem Verhalten von Bürgern der US bei ihrem Verbrauch auf eine gesellschaftliche Eigenart zu schließen als etwa in Europa mit seinem ungemein differenten Verbrauchsweisen, die nur allmählich, insbesondere als Konsequenz intensiver Werbung, die Neigung zeigen, uniform zu werden.

Die Autoren des vorliegenden Buches, welche die Nachfolge des berühmtesten US-amerikanischen Verbrauchsforschers, T. Veblen, angetreten haben, zeigen in einer anschaulichen und erregenden Weise und unter ständiger Bedachtnahme auf die Fakten, wie sie das Phänomen der Wandlung der amerikanischen Gesellschaft aufgliedern und deuten. Dabei sehen sie vor allem den Einfluß der Bevölkerungsbewegung als maßgebend an. Eine schrumpfende Bevölkerung hat eine durchaus andere Neigung als eine expansive Bevölkerung, die Konsumweisen übt, wie sie etwa für die amerikanische Gesellschaft von heute nicht mehr charakteristisch sind. Interessant ist, daß die Verfasser sich nicht scheuen, ihre Darstellung etwa durch Hinweise auf Erfolgsfilme zu unterbauen,

davon ausgehend, daß der Film irgendwie das Leben der Nation reflektiert. Das Verbraucherverhalten wird weitgehend auf seine letzten Bestimmungsgründe zurückgeführt, wenn auch die Verfasser dessen gewiß sind, daß die Herausstellung der letzten Gründe des Konsums zu einem .endlosen Regreß wird (137), zu einem Rückgriff ohne Ende auf hintergründige Motive.

Die im Buch vorherrschende Tatsachenschilderung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Autoren mit ihrem Werk, das in den USA ein Bestseller geworden ist, ein verbrauchserzieherisches Anliegen verfolgen, daß sie in ernster Sorge sind, angesichts der vehementen Ent-Puritanisierung der Gesellschaft ihres Landes, die daran ist, trotz gestiegenen Konsumwissqns und neuer Verbraucherfähigkeiten, in Verbrauchssnobismus abzufallen.

Zum Buch hat Professor Schelsky (Hamburg) eine ausgezeichnete Einführung geschrieben und durch seine klare Darstellung des besonderen Anliegens der Verfasser und seine Hinweise das Werk auch für den verständlich gemacht, der von US-amerikanischen Verhältnissen wenig weiß und das Problem der amerikanischen Verbrauchergesellschaft nicht zu deuten vermag.

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