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DAS MÄRCHEN DER LEBENSHILFE

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Zu den Vorzügen unseres Zeitalters gehört, daß gegenüber zahlreichen Äußerungen des menschlichen Daseins, die aus verschiedensten Gründen der Geringschätzung verfielen, ein neues Verständnis erwacht. Diese Tendenz beruht einerseits auf speziellen Forschungen, anderseits resultiert sie aus der Praxis der Naturwissenschaften an sich, die aus der kontinuierlichen Konfrontation mit den Einzelfakten der Weltwirklichkeit darüber belehren, daß kein Seinsphänomen existiert, das nicht eine sinnvolle Funktion erfüllte. Auf dieser Basis bahnt sich auch dem aus uralten Wurzeln gespeisten Volksgut der Märchen gegenüber eine grundlegend neue Einstellung an.

Seit die Psychologie uns zu der Erkenntnis verholten hat, daß der vom intellektuellen Bewußtsein verwaltete Geistgehalt der Kulturen nur einen Bruchteil der in uns wirksamen Geistkräfte darstellt und wir demzufolge den Emanationen des Unbewußten, gleich ob sie sich in Träumen, Spontanideen, Visionen oder rational kaum oder gar nicht erklärbaren Handlungen äußern, mit neuem Respekt begegnen, ist auch das Tor aufgestoßen zu Expeditionen in die vielgesichtige Märchenwelt. Daß das Märchen als mittelbare Folge der sich selbst verabsolutierenden Aufklärung aus dem Gesichtskreis der Erwachsenen verschwand, in den Untergrund gedrängt und hochmütig eben noch als Unterhaltung für Kinder geduldet wurde, paßt in das Bild der Epoche.

Daß die Märchen, deren Abgrenzung gegenüber den Mythen fließend ist, keineswegs Erfindungen einzelner, sondern ein durch Generationen von Mund zu Mund wanderndes Erzählgut sind, erhebt sie in den Rang schöpferischer Kollektivleistungen. Ist auch die Vielfalt ihrer Motive unübersehbar, so steht doch fest, daß es eine Reihe von Grundmotiven gibt, die unabhängig voneinander in verschiedenen Kontinenten und Kulturlandschaften auftauchen, was nicht ausschließt, daß die Stoffe, wo die Möglichkeit dazu besteht, sich seit Jahrtausenden von Region zu Region auf WanderSchaft befinden. Die Erkenntnis, daß es zum Beispiel in den „Deutschen Märchen aus dem Donauland“, in den „Indianer-märchen aus den Kordilleren“, in den „Altägyptischen Mär? chen“ und in den Märchen der Eingeborenen Zentralafrikas Fabeln von identischem Gehalt gibt, erhellen als für den Gegner allen Rassenwahns hochwillkommene Tatsachen die ganze Tiefe der Gemeinsamkeiten der Menschen aller Zonen.

Daß dem echten, gewordenen Märchen Kitsch und Sentimentalität fremd sind, weiß jeder, der sich mit ihnen beschäftigt. Daß sie, wie aus den Arbeiten Freuds, vor allem aber C. G. Jungs sowie einer Reihe weiterer Forscher hervorgeht, neben oder besser: durch ihre poetischen Schönheiten hindurch Produkte bedeutender Geistesleistungen der Weltbewältigung sind, ist auch innerhalb breiter Bildungsschichten nicht hinreichend bekannt. Das ist nicht verwunderlich, denn die Aussagen des Märchens sind ähnlich jenen der Träume in ihrer innersten Schicht verschlüsselt, zumeist auf hochkomplizierte Weise, so daß ihre Dechiffrierung eine eigene Wissenschaft ist.

Wir kommen einen Schritt weiter, sobald wir uns vor Augen halten, was Märchen nicht sind: sie sind nicht, wie etwa Moritaten, Berichte über tatsächlich greifbar real | vorgefallene Ereignisse. In ihnen erscheinen nicht Einzelpersönlichkeiten mit individuellem Schicksal, es geht nicht I um Rapporte oder Chroniken darüber, wer, wann, wo Glück | oder Unglück erfahren, Übeltaten oder Tugenden geübt hat. Die Helden sind in bürgerlichem Sinne namenlos, sie heißen' nicht Peter Meyer, sondern König Drosselbart, Schneewittchen oder Däumling, oder einfach: der Bettler, der] Reiche, die kluge oder die törichte Prinzessin.

Dies allein weist bereits darauf hin, daß es sich hier nicht] um krude, sondern um verdichtete Wirklichkeiten handelt, daß die Hauptcestalten Grundtypen darstellen, die im sauber | tradierten Erzählgut ohne weiteres als Archetypen im Jungschen Sinn identifizierbar sind, verwickelt in exemplarische I Modellfälle menschlicher Verhaltungsweisen, eingebettet in | eine Weltschau, die zwischen himmlischen, irdisch-menschlichen und dämonischen Kräften unterscheidet und ein ] stets hohes, wenn auch nicht immer leicht durchschaubares | Ethos entfaltet.

Daß die bei Diederichs edierte Reihe der „Märchen der | Weltliteratur“, die durch laufend erscheinende Bände ergänzt j wird und der auch die oben zitierten Titel entstammen, zu j einem Welterfolg wurde, ist kein Zufall, sondern ein Beweis dafür, daß immer weitere Kreise der Bedeutung des I Märchens, in dem urälteste, zeitlose Menschheitserfahrung komprimiert sich findet, inne werden. Auch derjenige, dem] die Zeit mangelt, in der einschlägigen Literatur nachzublättern, wo er erfahren kann, welchen Aspekten der Seele | die einzelnen Gestalten, Gegenstände oder Naturerscheinungen entsprechen, erfährt aus der Märchenlektüre nicht allein] Genuß, sondern auch hilfreiche Welt- und Seinsbestätigung, vielfach ohne daß er es selbst merkt. Denn die aus dem geheimnisvollen Reich des Unbewußten emporsteigenden j Märchen rühren durch die ihnen eigentümliche Symbolsprache die Tiefenschichten auch jenes modernen Großstädters an, der sich derartiger Zusammenhänge auch nicht j im geringsten bewußt wird. Mag sein Verstand auch stutzig werden und sich dann und wann sträuben, seine Seele versteht schon, was gemeint ist. Mit anderen Worten: Wir | dürfen, der magischen Welt längst entwachsen und zu Leistungen in anderen, entwicklungsgeschichtlich höheren ] Schichten gerufen, der zauberhaften Märchenwelt dennoch] ruhig vertrauen — außer wir wollten den Weg des Menschen ] aus dem Dunkel der frühesten Zeit bis ins Heute leugnen, wodurch wir aufhörten, unsere Rolle als historisches Wesen j zu spielen.

Hier liegt auch die rechte Bedeutung des Märchens für das Kind. Es weiß in seinem Innersten zumeist besser als wir, welche Art Wahrheit das Märchen meint, ist doch seine Kommunikation mit dem Unbewußten weitaus weniger ver-* stellt als die unsrige. Einzelne Geschichten von besonderer Grausamkeit wird man jüngeren Kindern nicht präsentieren, im übrigen aber sich darauf verlassen dürfen, daß echte Volksmärchen noch keinem Kind geschadet, wohl aber vielen tiefgreifend „als Lebenshilfe“ genützt haben, besonders wenn sie in der Nestwärme des Familienkreises vorgetragen werden.

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