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Den Menschen gibt es erst seit...

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Mit Recht heben die Philosophen die Kraft der europäischen denkerischen Tradition hervor und zeigen die Historiker, wie mächtig und majestätisch sich der Strom der europäischen Geschichte durch die Jahrhunderte bewegt. Aber mit noch größerer Berechtigung verweisen die Künstler auf die Welt der europäischen Unsterblichen als auf die höchste, reichste und hellste Quelle europäischen Bewußtseins und Lebens. Seinen großen schöpferischen Geistern verdanken wir es, daß Europa im Lauf der Zeitalter einen Olymp von unsterblichen Männern und Frauen hervorgebracht hat, ein vergeistigtes und in unserem inneren Gesichtsfeld stets gegenwärtiges Europa. Auf dem Hintergrund der Gedanken und Erinnerungen der Philosophie und der Geschichte Europas leben und bewegen sich die großen Gestalten des europäischen Geistes, entfalten sie sich gleichzeitig mit uns, wirken auf uns und aufeinander mit jener inneren Kraft, die ihnen die Künstler, die sie schufen, verliehen haben. Sie sind unsere Götter. Die Griechen machten Götter aus den Naturgewalten, aus den Offenbarungen des Schicksals, das sie nicht meistern konnten und daher zu besänftigen suchten. Wir Europäer aber schufen unsere Götter, indem wir ihnen menschliche Züge gaben und auf sie die Spannungen unserer eigenen vielschichtigen, immer ringenden Seele übertrugen. Der Europäer, der aus der Mischung verschiedenen Blutes entstanden ist, in dessen Adern so viel kollektive Erinnerungen aufeinanderprallen, ist wie eine lebende Diskussion, eine dauernde und nie zu lösende Streitfrage. Diese innere Auseinandersetzung haben unsere großen schöpferischen Künstler zu einem Olymp europäischer Charaktere verdichtet in Hamlet, Don Quijote, Faust, Don Juan, Iwan Karamasow, Peer Gynt.

Was für ein weltenweiter Unterschied besteht doch zum Beispiel zwischen Don Juans nur allzu menschlichen Abenteuern mit den Frauen, die er verführt, und der sehr wenig göttlichen Gebärde, mit der Jupiter Danae und die übrigen an sich reißt! Jupiter ist ein Gott, der sich wie ein Mensch benimmt, oder, wie Voltaire gesagt hätte, ein Gott, vom Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Don Juan ist ein Mensch, der die Unsterblichkeit gewinnt, weil er das, was in allen Menschen donjuanhaft ist, verkörpert. Eine solche Verwandlung wäre wohl kaum ohne das Christentum möglich gewesen. Menschen hat es schon immer gegeben. Den Menschen gibt es erst seit Christus. Das umwälzende Neue, das die Geschichte verwandelt, als Christus in sie eintritt, besteht darin, daß er erklärt, der Sohn Gottes zu sein. Es besteht darin, daß er, ein Gott, erklärt, des Menschen Sohn zu sein. Indem er so den Menschen schuf, machte er alle Menschen so unermeßlich, so tief und unvergänglich wie die Menschheit als Ganzes. Und so öffnete er unsern Dichtern einen menschlichen Raum außerhalb des Raumes und eine mensdiliche Zeit außerhalb der Zeit, in die sie jene unsere Götter, die alle Menschen sind aber unvergänglich leben, hineinstellen können.

Von diesen unseren Göttern sind Don Juan, Don Quijote, Hamlet und Faust die größten. Es gibt noch andere, wie Iwan Karamasow oder Peer Gynt, doch von diesen hat keiner so allgemeine Gültigkeit wie die vier Großen. Beachten wir, daß von diesen vier zwei Spanier sind und nicht einer aus Italien oder Frankreich stammt. Dies kommt uns zuerst sonderbar vor, doch wenn wir darüber nachdenken, so scheint es ganz normal und natürlich. Frankreich und Italien sind die beiden Mütter der europäischen Kultur. Die Leistung dieser beiden Länder für Europa ist nahezu unvergleichbar. Doch weder in der französisdien noch in der italienischen Literaturgeschichte können wir Unsterbliche finden, wie sie Spanien, England, Deutschland, Rußland und Norwegen hervorgebracht haben. Trotz der wunderbaren Fruchtbarkeit Balzacs erhebt sich keiner seiner Charaktere hoch genug, um in den europäischen Olymp aufgenommen zu werden. Des Rätsels Lösung finden wir, wenn wir nicht die Mängel, sondern die Fähigkeiten Frankreichs und Italiens betrachten. Italiens besondere Gabe liegt in der Kraft des plastischen Ausdrucks. Er stellt Leonardos Gioconda und Michelangelos Moses den großen geistigen Figuren Europas ebenbürtig zur Seite. Frankreich ist die Mutter der Form, die die Ordnung, das Maß, die Regeln angibt. Es sorgt für das Haus und die Bühne, den Rahmen, in dem unsere großen Gestalten stehen. Diese Figuren selbst aber steigen auf aus dem Reiche der Dunkelheit und des Gestaltlosen, den der leuchtende Geist Frankreichs und Italiens nur selten besucht. Ans Tageslicht müssen sie deshalb in jenen Nationen kommen, die vertrauter mit den dunklen Tälern, den stürmischen Meeren und den geheimnisvollen Wäldern der menschlichen Seele sind.

Von dort stammt ihre vitale Stärke. Denn wenn auch jede von ihnen eine starke Symbolkraft besitzt, so sind doch Hamlet, Faust, Don Quijote und Don Juan selbst keine Sinnbilder. Sie sind Personen und tragen dasselbe Rätselhafte mit sich, das alle Menschen, die wirklich lebendig sind, ausstrahlen.

Wandernde Rätsel wie wir alle, denn unsere Einheit ist mehr eine Einheit des Körpers als der Seele, und viel eher besteht eine Einheit in der Welt der Erscheinungen und der plastischen Formen als in jener unermeßlichen Unterwelt der Triebe, Gedanken und Eingebungen, die auch dem klarsten Blick ins Dämmerlicht des Unvorstellbaren getaucht bleibt. Diese großen Gestalten, Schöpfungen der Einbildungkraft, sind widerspruchsvoll und doch im innersten Wesen beständig, reich an Ideenschattierungen und der Welt der Dinge und Menschen in einem fein abgestimmten chiaroscuro verhaftet; aber sie sind unmißverständlich klar in Umriß, Gebärde und Stil. So sind uns diese Männer aus dem Reich der Imagination vollkommen vertraut. Doch wenn wir unsere Bekanntschaft mit ihnen analysieren wollen, so entdecken wir, daß dieses „sie kennen“ gerade die besondere Art und Weise bedeutet, in der wir jeden von ihnen nicht kennen. Es wird uns klar, daß wir weder das Rätsel Hamlets noch das Rätsel Don Quijotes durchschauen, aber wir wissen, daß es verschiedenartige Rätsel sind. Und wir haben eine bestimmte und klare Vorstellung von Gestalt und Umriß des einen und des anderen, von den Ecken und Kanten, mit denen sie uns und die eigenen Rätsel in uns berühren. So sehen wir, daß der Ruhm ihrer Schöpfer in der Macht liegt, bestimmte, greifbare Geheimnisse vor uns aufzustellen, die wir mit einem ßlick erkennen und voneinander unterscheiden, aber doch niemals in sich selbst kennen können.

Diese drei Faktoren — ihre innere Lebenskraft, ihr personenhaft-konkreter Umriß, ihr in den Tiefen ruhendes Geheimnis — erklären, warum die großen Gestalten der europäischen Einbildungskraft das Leben und die Erfahrungen nachfolgender Generationen an sich ziehen, wie sie mit jedem Zeitalter reicher werden durch die Ernten des vorhergegangenen. On ne prete qu'aux riches. Diese vier Gestalten, denen Shakespeare, Cervantes, Tirso und Goethe aus den Träumen der Menschen ihrer Tage heraus Gestalt verliehen, wachsen ständig weiter aus den Träumen aller späteren Tage. Obwohl sie im Gewand der Zeit, in der sie geboren sind, auftreten, obwohl sie klassisch sind, sind sie doch immer modern. Und auch wenn sie deutlich die Prägung als Engländer, Spanier und Deutscher zeigen, so sind sie doch immer europäisch, von jener Universalität besonderer Art, welcher das europäische Bewußtsein seinem sokratischen Gehirn und seinem christlichen Herzen verdankt.

Aus „Porträt Europas“, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.

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