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Pessimistische Utopie
Welch ein Unterschied zwischen den utopischen, evolutionsgläubig-optimistischen Romanen aus dem Geiste des 19. Jahrhunderts und den Utopien des Pessimismus und der Katastrophenangst von heute! Welch ein Unterschied zwischen den Träumen Jules Vernes und H. G. Wells und dem Alpdruck in der „Brave new world“ Huxleys und den mehr oder weniger politisch gefärbten Zukunftsreportagen, wie sie heute allerorten auftauchen! (Der Genauigkeit halber sei erwähnt, daß der jetzt in der Zeitschrift „Der Monat“ erscheinende Roman „London 1984“ von George Orwell mit dem Kuehnelt-Leddihnschen Buch nicht nur im Titel allein Ähnlichkeiten besitzt; der Fall scheint um so merkwürdiger, als der kürzlich vermutlich ebenfalls in einem Schweizer Verlag erschienene utopische Roman „Kallocain“ — an den Namen seines wohl englischen Autors erinnern wir uns leider nicht mehr — mit den beiden genannten Büchern wiederum die geistige und politische Grundkonzeption gemeinsam hat, die natürlich auch zu Ubereinstimmungen im Literarischen und im Handlungsgang führt. Ein Zusammentreffen, das zu denken gibt.) Der prophetische Wert aller dieser älteren und neueren Utopien ist wohl niemals sehr hoch einzuschätzen gewesen; sie alle sind weniger Voraussagen, denn Versuche zur Konstatierung gegenwärtiger Tatbestände, Befürchtungen und Hoffnungen, die man vor den vergrößernden, freilich auch verzerrenden Spiegel eines fiktiven'Futurums stellt. Eine Definition, die auf das hier zu besprechende Buch in besonderem Maße zutrifft.
Im Jahre 1997 hat sich der russische Sowjetstaat ganz Europa, ganz Asien unterworfen. Ihm stehen das britische Weltreich und Oroß-amerika gegenüber; England hat sich zwischen Aristokratie und sozialisierter Gesellschaft eine höchst paradoxe Bastardstaatsform geschaffen, ist völlig säkularisiert und vom Bürokratismus überwuchert, Amerika aber zum katholischen Erdteil geworden — im Vatikan in San Franzisko sitzt ein philippinischer Papst. Da und dort gibt es noch so etwas wie Achtung vor dem Geist oder Spuren echter Religiosität, nicht leicht zu finden, verschüttet, verdeckt, aber es gibt sie immerhin noch. Nichts mehr, gar nichts mehr davon im sowjetisierten Eurasien. Dort hat der pure, kaum noch durch ideologische Revolutionsreminiszenzen getrübte Materialismus seine Herrschaft angetreten. Unter ihm gibt es keine menschlichen, sittlichen oder ethischen Gesetze mehr, nicht einmal eine wahre Gesetzgebung des Staates. Die Dinge ordnen oder verwirren sich nur mehr nach physikalischen Regeln, nach den Formeln von Aktion und Reaktion, der Umwandlung der Materie (auch der Mensch ist nach einer „halboffziellen“ Auffassung nicht höher als eine bestimmte Quantität toten Stoffes einzuschätzen, daher Leichen oder zum Tode Verurteilte technisch „verarbeitet werden), nach den Zahlen völlig unsinniger Fünfjahrespläne usw____ Der Mittelpunkt dieses im wahrsten Sinne des Wortes entmenschten Reiches ist Leninsk, die phantastische Wunderstadt, in der um den Staat Verdiente ein paradiesisches Leben führen; jährlich nimmt sie größeren Umkreis an, der durch Stacheldrahtverhaue markiert wird. (Später stellt sich heraus, das Leninsk ein Wüstenfleck ist, von einigen mongolischen Nomaden bewohnt, die jeden Ankommenden abschlachten. Leninsk ist das Nichts.)
Der Held des Romans ist gleichzeitig gefeierter Arbeitsheld dieses infernalischen Landes — seine Gipsfigurenfabrik hat die höchsten Produktionsziffern aufzuweisen! — und Erzbischof der winzig kleinen katholischen Gemeinde des Sowjetstaates. Bedroht, gehetzt, verfolgt, von Mikrophonen belauert, von Spitzeln beobachtet. Die Verkörperung ununterdrückbarer Sehnsucht, der einzige, der diesen Sowjetstaat als Hölle, Leninsk als das Nichts, den Mächtigsten der Beamten als Teufel erkennt. (Der Staatspräsident, ein kleiner Tscheche, ist in dessen Hand nur Marionette.) Sein Leben besteht aus Opfern: er verliert die Seele seines Sohnes, das Vertrauen des fernen Papstes, fast den Glauben an sich selbst. Einige Seelen kann er noch retten, für sich allein den Teufel besiegen. Dann wird er — „verarbeitet“...
Soweit der Inhalt des Buches. Die Perspektiven, die es zeichnet, sind mehr als wertvoll; ihnen zuliebe kann man übersehen, daß der literarische Rang des Romans nur der eines überaus gescheiten Reißers ist und eigentlichen Wert nur die unbarmherzigen und grotesken Paradoxien besitzen, die der Autor reichlich zur Hand hat und deren scharfe Formulierung bisweilen faszinierend wirkt.
Dr. Jörg Mauth und Volkswirtschaftslehre hat der Sozialist
Brunngraber zu seinem neuen Buch vereinigt. Obwohl der Leser in manchen Einzelheiten anderer Meinung sein und manche Schlußfolgerungen ablehnen wird — Beispiele anzuführen, fehlt hier der Raum -—, bleibt die Lektüre dieser Aufsätze dennoch interessant und anregend. Aus einer großen Zahl von Einzelheiten aus den verschiedensten Wissensgebieten entwickelt Brunngraber sein optimistisches Bekenntnis, daß alle Fehler und Mängel der heutigen Gesellschaftsordnung durch die menschliche Vernunft beseitigt werden könnten.
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