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Rußland und Europa

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Bis zu Peter dem Großen hat sich Rußland um Europa kaum gekümmert und Europa um Rußland auch nicht allzuviel. Immerhin gab es die Berichte der elisabethanischen Kaufleute und die Bücher von Olearius und Herberstein. Mit der Petrinischen Revolution ändert sich das: Europa macht sich über Rußland Gedanken; besonders wenn dieses ihm gefährlich wurde. Dagegen kreist das russische Denken seitdem nur um die beiden Brennpunkte der Ellipse: Rußland und Europa. Heute aber, nach dem zweiten Weltkrieg, kreist bereits das politische Denken der ganzen Welt unablässig um'diese beiden Punkte. Beide, der Osten wie der Westen, haben Angst vor dem andern, beide wollen den Frieden. Während aber der Westen, seiner Weltanschauung nach, den anderen neben sich bestehen lassen kann, kann der Osten, seiner Weltanschauung nach, das auf keine Weise. Denn zum östlichen Glauben gehört der Sieg, während zum westlichen Glauben der Kompromiß gehört.

Das Verdienst des etwas schwerflüssig geschriebenen Scheltingschen Buches besteht darin, in Auszügen und Resümees die dokumentarischen Unterlagen für diese ständige russische Geschichtsdiskussion zu geben. Und zweitens darin, daß Schelting im Geschichtsdenken und in der Gestalt Tschaadajew sozusagen den Stamm erkannt hat, von dem aus alle Zweige und Verästelungen des russischen Gesch'ichtsdenkens entsprießen. Tschaadajew, ein Freund Puschkins, starb 1856 während jenes Krimkrieges, der das tragische Ende des ersten Aktes dieses geschichtlichen Dramas „Rußland und Europa“ bedeutet. Tschaadajew ist ohne Zweifel vom genialen Joseph de Maistre beeinflußt worden und hat von diesem die wahre und richtige Grundkonzeption Europas als einer Schöpfung der katholischen Kirche empfangen. Der Mangel Tschaadajews war ein ästhetischer — schon das Faktum, daß er nur französisch, nicht russisch schreibt, ist bezeichnend. Damit hatte er das Hauptergebnis der Petrinischen Revolution, welches in der Schöpfung der nissischen Weltsprache durch Puschkin bestand, überhaupt nicht erkannt. Herzen schreibt einmal: Peter der Große habe mit seiner Umwälzung an Rußland eine gewaltige Frage gerichtet — und dieses habe nach hundert Jahren darauf seine Antwort gegeben: Puschkin. Damit löst sich eigentlich die Tschaadajewsche Grundfrage: .Hat Rußland einen historischen Sinn oder war es bis Peter nur eine .Lücke'?“ von selbst, denn ein Volk, das solch eine geniale Sprache schaffen und dann in hundert Reformjahren zu einer Weltsprache kultivieren konnte, hat damit sowohl sein .Schlafdasein“ wie auch die erweckende

Petrinische Revolution gerechtfertigt. Ebenso bestand die fanatische Ungerechtigkeit der Slawophilen (ganz abgesehen von ihrer von Grund aus falschen Geschichtsauffassung) schon darin, daß sie sich gegen Europa in einer Sprache (dem modernen Russisch) wandten, die sie, nebst ihren Denkkategorien, ja gerade dem Einflüsse des verhaßten Europas verdankten! Damit gleiten die Slawophilen in den welthistorischen Minderwertigkeitskomplex des Russentums hinein, den sie eifrigst überkompensieren. Schelting weist mit Recht darauf hin, daß das Gefühl der Berufung bei den revolutionären „Westlern Rußlands in seiner Art ebenso stark war wie bei den Slawophilen. Um wieviel mehr aber die Russen damals von Europa wußten als heute, bezeugt das von Schelting erwähnte Faktum, daß sowohl Chomjakow als auch Tschaadajew die Oxfordbewegung Newmans kommentiert haben: Tschaadajew positiv, Chomjakow negativ. Während Dostojewski, zehn Jahre darauf, von diesem innersten Leben Englands überhaupt nichts ahnt! Neben Puschkin sind Tschaadajew und Wladimir Solowjow diejenigen Russen gewesen, die Europa am tiefsten, nämlich im Religiösen, erkannt haben. Die heutigen Russen haben keine Ahnung von Europa, während sie zugleich äußerst scharfsichtige Kritiker der europäischen Oberfläche sind (von denen wir in dieser Hinsicht manches lernen können). Der Grundirrtum der Slawophilen war ihre Behauptung von der unwandelbaren Reinheit des orthodoxen Dogmas. Aber bis zur west-östlichen Kirchenspaltung hatte sich das Dogma ja doch „gewandelt“, nämlich entfaltet. Mit der Spaltung hatte der Osten die dogmenbildende Kraft verloren und redete sich nun diesen offensichtlichen Mangel als den Vorzirg unwandelbarer Glaubensreinhrit ein. Er nahm Erstarrung (durch das Schisma) für das eigentliche Leben! Tschaadajew, der ja von de Maistre herkam, konnte das noch nicht so genau erkennen; W. Solowjow dagegen, „le Newman russe“, hatte das von sich aus in genialer Intuition erfaßt und dadurch die Kraft zur Erkenntnis Rußlands wie auch Europas gewonnen.

Schelting selbst deutet an, daß auf dieses Werk noch ein zweites folgen werde, welches den großen Disput zwischen Osten und Westen, Rußland und Europa, bis auf die heutigen Tage darstellt. Wie der Held des vorliegenden Werkes Tschaadajew ist, dürfte der Held des folgenden wahrscheinlich Wladimir Solowjow sein. Das wertvolle Werk „Rußland und Europa' liefert die Unterlagen zur tieferen Erkenntnis des heutigen Welt-konflikls.

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