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US-Demokratie — kritisch durchleuchtet

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OBER DIE DEMOKRATIE IN AMERIKA. Von Alexis de Tocqueville. Band 1 der Werke und Briefe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. Etwa 550 Seiten. Preis 30 DM

Amerika war für Heine und Nietzsche, für Byron und Shelley das Symbol für die Ueberwindung der heimatlichen Malaise. Die zisatlantischen Hymnen auf das transatlantische Paradies wurzelten zuweilen offensichtlich in der europäischen Europafeindschaft. Man kann bei manchen Hymnikern das Unbehagen an ihrem Land geradezu an der Begeisterung messen, mit der sie die amerikanischen Verhältnisse schilderten. Den Romantikern war es das Land, in dem es kein Unbehagen in der Kultur gab, für die politischen Liberalen wiederum das Paradies, das keinen Feudalismus erlitten hatte. Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859), altem französischem Adel entstammend, unzugänglich für politische Illusionen, stand nach seinen eigenen Worten der Demokratie nahe genug, um sie gut zu kennen, aber auch genügend fern, um sie ohne Leidenschaft beurteilen zu können. 1831 unternahm er eine Studienreise nach Amerika und schrieb das Standardwerk über die amerikanische Demokratie. Wilhelm Dilthey nennt diesen Propheten des Massenzeitalters „den größten Analytiker der politischen und sozialen Welt seit Aristoteles und Macchiavelli“ .. .

In seiner 1955 erschienenen kritischen Analyse der westlichen Demokratie vom Standpunkt der „Public Philosophy“ aus, hat der Starjournalist Walter Lipmann die Lähmung der Regierungsgewalt durch die aufkommende Herrschaft der Masse und der Massenmeinung als den Herd des Uebels und die Vorboten des Sturzes der westlichen Gesellschaft signalisiert. Der Hinweis auf die logische und tatsächliche Brüchigkeit einer auf die bloße Zählung der Stimmen zugespitzten Demokratie, die den Begriff der Volkssouveränität zum obersten und einzigen Wert erhebt, ja ihn schrankenlos setzt, ist weder neu noch ernsthaft angefochten. Aber im Gegensatz zu den vor erst 30 Jahren geschriebenen Werken Ortega y Gassets und Jaspers', fiel die unübertreffliche Durchleuchtung der frühen amerikanischen Gesellschaft in das Zeitalter Andrew lacksons (1829 bis 1837), des ersten populären US-Präsidenten, unter dem die Demokratie und die Demokratische Partei Amerikas erst begann. Noch immer beherrschte das wilde Temperament der Freiheit alles andere, die Wildnis lockte. Erst von jetzt an machte sich das Volk die Regierung zu ihrem Werkzeug. Erst in der Aera Jackson begann das berühmte und berüchtigte „Spoil-System“, also die Gelegenheit, Regierung und Verwaltung aller staatlichen Aemter als Beute an-usehen, die der jeweils siegreichen Partei zufällt. Die tealen Gefahren der Demokratie, Anarchie und Diktatur — und in beiden Fällen das Entstehen einer erdrückenden Beamtenschaft — hat aber Tocqueville damals schon klar vorausgesehen. Er war von dem Gedanken beherrscht, daß die Freiheit des amerikanischen Gleichheitsstaates einmal ins Gegenteil umschlagen könnte, sei es durch den Konformismus der öffentlichen Meinung, durch die Tyrannis des Hochkapitalismus oder durch die allmächtigen Arbeiterorganisationen. Deshalb seien Einrichtungen, die die Macht des einzelnen wie die der Masse zähmten, für die Demokratie unentbehrlich: also Pressefreiheit, richterliche Unabhängigkeit, Immunität, der Abgeordneten unter starker, aber kontrollierter Regierungsgewalt. Mit der strikten Formulierung dieser rechtsstaatlichen Sicherungen finden Tocquevilles Analysen ihre Anwendung auf die Praxis.

Hellsichtig sah Tocqueville die Heraufkunft Amerikas als Weltmacht vorätas, und ihm zur Seite — Rußland. „Es gibt heute“, so schrieb er vor 120 lahren, „auf Erden zwei große Völker, die, von verschiedenen Punkten ausgegangen, dem gleichen Ziel zustreben: die Russen und die Angloamerikaner. Beide sind im verborgenen großgeworden ... all anderen Völker scheinen die Grenzen ungefähr erreicht zu haben, die ihnen die Natur gezogen hat... sie aber wachsen ... ihre Wege sind ungleich, dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten.“

Die Bedeutung des Werkes ist durch die historische Entwicklung bestätigt worden. Es ist unerhört aktuell I Darin lag wohl auch der Entschluß zur deutschen Tocqueville-Ausgabe, die auf der französischen historisch-kritischen Gesamtausgabe beruht und vom Verlag Gallimard, Paris, veranstaltet wird.Sie wird acht Bände umfassen und innerhalb von fünf Jahren zur Gänze vorliegen. Als Herausgeber zeichnen die Professoren J. P. Mayer, Hans Zbinden und Theodor Eschenburg, womit gleichzeitig die wissenschaftliche Qualität der deutschsprachigen Ausgabe verbürgt ist. Eschenburg würdigt auch im Vorwort die Bedeutung Tocquevilles für die deutschen Verhältnisse.

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