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Adorno gesprächsweise

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„Erziehung zur Mündigkeit“, acht Radiovorträge und Studiodiskussionen, stellen auf knapp 150 Seiten den ganzen unerbittlich schürfenden Soziologen Theodor W. Adorno vor, aber mit einer vornehm vereinfachten Diktion, wie man ihn bei seinen Schriften nicht und auch selten bei anderen Vorträgen erlebte. Seine streng gebauten Satzgebilde, als stilistischer Ort schwer zu vollziehender und nachzuvollziehender Gedankengänge, ergaben gerade in ihrer unerbittlichen Präzision für manchen vom ständigen Ungefähr zeitgenössischer Schreibweise sprachlich depravierten Leser eine kaum zu entziffernde Lektüre. Adorno selbst hat einmal das für ihn erstaunliche Phänomen beschrieben, daß nach einem seiner Rundfunkvorträge entrüstete Hörarzuschrdften die Unzahl von Fremdwörtern rügten, die den an sich interessanten Vortrag so gut wie unverständlich gemacht haben sollten: Adorno kontrollierte das Manuskript, zählte und stellte fest, daß drin nur zwei oder drei nicht alltägliche Fremdwörter vorgekommen sind. Aber der ganze Text, wiewohl aus völlig geläufigen Vokabeln zusammengesetzt, war eben so strikt formuliert, daß er den phrasengewohnten Hörern in einem peinlichen Sinne des Wortes als fremdsprachig erschien. Nicht ganz zu Unrecht. Adornos Texte waren in der Regel bestimmt besser zum Lesen, das heißt: zum Studium geeignet. Erinnerlich ist uns beispielsweise ein 30-Minuten-Radiovortrag über neue Musik (vor mehr als zehn Jahren), der für Nichtkenner Adornos und der neuen Musik womöglich noch schwerer zu begreifen war als diese.

Ganz anders die vorliegende Sammlung von Beiträgen für den hessischen Rundfunk aus den Jahren 1959 bis 1969. (Der letzte wurde erst am 13. August 1969 gesendet, sieben Tage nach Adornos plötzlichem Tod.) Schon die Themen sind nicht für ein Seminar gedacht, sondern für eine breitere Hörerschaft; was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, Philosophie und Lehrer, Fernsehen und Bildung, Tabus über den Lehrberuf, Erziehung nach Auschwitz, Erziehung — wozu? Erziehung zur Entbarbarisierung, Erziehung zur Mündigkeit.

Der Mangel an Mündigkeit kommt nach Adorno, grob vereinfacht gesagt, von dem grassierenden Mangel an Selbstkontrolle, ja einem heftigen Unbehagen schon vor dem leisesten Versuch einer solchen: Die meisten Leute scheuen zurück vor jeder Intimität mit sich selbst; sie haben sich schablonenhafte Ausreden einreden lassen, die oberflächlich Sicherheit gewähren und den Glauben an die Berechtigung der eigenen Schwächen bestärken. Scheinbare Dummheit und scheinbare Schlechtigkeit gegenüber den tieferen Geboten eines sittlichen Imperativs sind, genauer besehen, ein tiefenpsychologisches Problem. Der Durchschnittsmensch versagt nicht aus geistiger oder moralischer Unfähigkeit, sondern aus uneingestandener Angst vor sich selbst.

„Fernsehen als Ideologie“ etwa kommt zustande, indem „falsches Bewußtsein und Verschleierung der Wirklichkeit den Menschen eingetrichtert werden“, so daß sie schwerlich „zu einem selbständigen und autonomen Urteil“ gelangen. „Fernseh süchtigkeit“ macht schließlich „das Fernsehen, wie andere Massenmedien auch, eigentlich durch seine bloße Existenz zum einzigen Bewußtseinsinhalt“, wodurch „die Fülle des Angebots die Menschen ablenkt von dem, was eigentlich ihre Sache wäre und wa- sie eigentlich angeht“.

Oder als anderer Fall (mitten in der Rede über „Erziehung nach Auschwitz“) „die Rolle des Sports“, welche „von einer kritischen Sozialpsychologie wohl noch kaum zureichend erkannt wurde. Der Sport ist doppeldeutig: auf der einen Seite kann er antibarbarisch und antisadistisch wirken durch fair Fair play, Ritterlichkeit, Rücksicht auf den Schwächeren. Anderseits kann er in manchen seiner Arten und Verfahrensweisen Aggression, Roheit und Sadismus fördern, vor allem in Personen, die nicht selbst der Anstrengung und Disziplin des Sports sich aussetzen, sondern bloß zusehen; in jenen, die auf dem Sportfeld zu brüllen pflegen.“ 1966 gesprochen, sechs Jahre bevor anläßlich des triumphalen Einzuges eines verhinderten Olympiateilnehmers die Straßen der Großstadt, während der Arbeits- und Schulzeit, gesäumt waren von zehntausenden Vertretern einer zornentbrannten Begeisterung, was sich nicht nur in brutal formulierten Transparenten ausdrückte, sondern sogar im rabiaten Hochhalten einer strangulierten Strohpuppe, eine Demonstration, die dem abwesenden 84jährigen IOC-Präsidenten wenigstens symbolisch an den Kragen zu gehen versuchte. (Nicht zu reden von der Anpöbelung amerikanischer Urlauber, von wütenden Boykottaufrufen sowie der Drangsalierung von Kindern, Kindeskindern und anderen Angehörigen mitschuldig gesprochener Funktionäre.)

Kurzum, der wohlfeile Sammelband ist höchst aktuell. Sein Studium könnte beitragen zu einer besseren Bewältigung der Zukunft.

ERZIEHUNG ZUR MÜNDIGKEIT. Von Theodor W. Adorno. Surhkamp-V'erlag, Frankfurt 1971. 51 Seiten.

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