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Das Schuldbewußtsein der Tugend

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Anläßlich der Proben zur Neuaufführung seines vor einem Vierteljahrhundert geschriebenen Theaterstückes „Im Licht des Blitzes“ sah ich ihn wieder, nach langer Zeit Obwohl er sich von der bösen Gehirnblutung noch kaum erholt hatte, wirkte er nicht gealtert, im Gegenteil: wie ein Jüngling, durchgeistigt und verlegen beobachtete er dje Schauspieler, die besten, die das Budapester Nationaltheater aufzubieten hatte, machte in der Pause nur einige Bemerkungen über die Bühnensprache, ging aber einer tieferen Deutung des Dramas aus dem Weg.

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Anläßlich der Proben zur Neuaufführung seines vor einem Vierteljahrhundert geschriebenen Theaterstückes „Im Licht des Blitzes“ sah ich ihn wieder, nach langer Zeit Obwohl er sich von der bösen Gehirnblutung noch kaum erholt hatte, wirkte er nicht gealtert, im Gegenteil: wie ein Jüngling, durchgeistigt und verlegen beobachtete er dje Schauspieler, die besten, die das Budapester Nationaltheater aufzubieten hatte, machte in der Pause nur einige Bemerkungen über die Bühnensprache, ging aber einer tieferen Deutung des Dramas aus dem Weg.

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Am nächsten Tag fuhren wir gemeinsam nach Sajkod, in die lok-kere Villensiedlung am nordwestlichen Abhang des Hügels von Tihany am Balaton, nie war ich bis dahin dem Idealbild meiner Jugend so nahe gekommen, und dennoch schien es mir, als sähe ich nun die Größe dieses Mannes, auch die Tragik seines Werkes aus großer Ferne. Die Identität zwischen dem Helden des Theaterstückes und dem Autor war beängstigend. „Im Licht des Blitzes“ ist das Drama eines Landarztes, der, von seiner Umwelt unverstanden und beinahe geheim, die Misere der Bauern erforscht. Die Rückkehr eines jungen, empfindsamen und gebildeten Mädchens aus einem Schweizer Internat läßt den einsamen Mann auf einen geistigen Kontakt hoffen, doch die sinnliche Natur dieser Wahlverwandtschaft läßt sich durch das geistige Streben nicht zurückdrängen, und der Held zieht sich zurück, in doppelte Einsamkeit. Ein Thema wie von Tschechow, aber mit selbstquälerischer Strenge gestaltet, gleichzeitig das Grundmotiv des Lebenswerkes von Läszlö Nemeth: der Dualismus von Geist und Fleisch, beider unaufheb-barer Gegensatz im menschlichen Verkehr wie im Leben der Gesellschaft. Dieser Gegensatz ist es, den Nemeth als Schicksal erlebt Und immer wieder als Gleßirinist g^alt'etr'

Läszlö Nemeth, dessen Werk nun allmählich auch in Deutschland bekannt wird, ist selbst für Ungarn, dessen Geistesleben noch einen Rest von bunter Unregelmäßigkeit bewahrt hat, eine außergewöhnliche Erscheinung, mehr Philosoph als Dichter, mehr Pädagoge als Künstler, mehr Prediger als Literat, und dennoch ist er einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Sprache, fruchtbar, leidenschaftlich und genau. Den großen Franzosen des 17. Jahrhunderts gleich entwickelt Nemeth seine Gedanken in Romanen und Essays, in Theaterstücken und Artikeln, die Geschichte seines Landes und die des Menschenlebens unentwegt analysierend, von Nüchternheit besessen, wie ein guter Arzl nach gründlicher Untersuchung den Befund formuliert und das Krankheitsbild festhält. Nemeth ist Arzt von Beruf, längere Zeit hindurch war er Schularzt, unterrichtete auch, denn nichts war ihm zu gering als Objekt seines Messianismus — auch in der Einsicht, cultivons nos jar-diens, jenem großen Franzosen verbunden. -'Wm

Wie diese ist auch Nemeth ein zutiefst politischer Denker, im vornehmsten Sinn dieses Wortes. Sein Ausgangspunkt war das Ungarn der zwanziger Jahre, ein Land, das gerade zwei Drittel seines früheren Gebietes verloren und die fragwürdigen Experimente der kommunistischen und der konterrevolutionären Ära weniger überwunden als zeitlich hinter sich gelassen hatte, ein Land der unausgesprochenen uhd freilich ungelösten menschlichen und sozialen Spannungen also, zudem auch mit der alten und bis heute fortdauernden Diskrepanz zwischen östlicher Wesensart und westlicher Bildung belastet: für Nemeth eine Herausforderung zum Denken. Auf die Ideologien, Kategorien und Parolen der bekannten politischen Strömungen ging er dabei nicht ein — sie hatten sich ja als wirklichkeitsfremd erwiesen — auch enthielt er sich jeder verhängnisvollen Systematisierung. Aul Grund historischer Betrachtungen, soziologischer Forschungen unc philosophischer Überlegungen entwickelte Nemeth eine eigene Gedankenwelt.

Sie gipfelte in der Idee von einer „Revolution der Qualität“, wie Nemeth sein großes Essaywerk — noch Anfang der vierziger Jahre unsere zweite Bibel — programmatisch nannte, in der Besinnung auf die beste menschliche Substanz und auf die tatsächlichen Werte der Nation. (Die besondere Bedeutung dieses Begriffes in Ungarn entspringe allein der ethnischen Isolation eines mit den Nachbarvölkern unverwandten Stammes). Die Revolution der Qualität machte den Bauernsohn zum Vorbild, der sein Abitur hatte und nach der Feldarbeit griechische Klassiker las. Ein geistiger Verwandter von Ortega y Gasset und vielleicht von Ernst Jünger, unterschied Nemeth zwischen einem „tiefen“ und einem „dünnflüssigen“ Un-garntum und wurde von den Tagespolitikern sogleich mißverstanden: sowohl die Nationalisten wie die Sozialisten hielten Nemeth für einen Vertreter des ungarischen Rassismus. Er war es nicht. Er dachte aber an die geographische Lage Ungarns, früher zwischen dem osmanischen und dem römischen, später zwischen dem sowjetischen und dem nationalsozialistischen Reich, und versuchte, die Bedingungen der nationalen Eigenständigkeit und die der nackten Existenz zu formulieren. Er setzte eine Tradition fort, die sich während der türkischen Okkupation und der anschließenden Abhängigkeit von Wien auf natürliche Weise herausgebildet hatte: das Wort „zwischen zwei Helden für eine Heimat“ wurde vom Dichter Zrinyi im 17. Jahrhundert geprägt.

Die soziologischen und außenpolitischen Konsequenzen, die sich aus dem Nemethschen Gedanken ergaben, wurden dann als „der dritte Weg“ bezeichnet Vielen jungen Intellektuellen erschien er als der einzig richtige und inspirierte erst 1945 und später, im Oktober 1956, viele Pläne, auch Taten. Doch dachte Nemeth selbst in den Tagen allgemeiner Erregung historisch, sein langjähriges Schweigen brechend, mahnte er in seinem Artikel „Die Nation, die sich erhebt“ zur Mäßigung: „Klar sehe ich die unmittelbare Gefahr, daß die Nation, in heiliger Aufwallung und von Leidenschaft bewegt, etwas verüben könnte, das später nicht mehr gutzumachen wäre... Wer sollte das verhindern, wenn nicht wir, die sehen, was da zu verlieren ist?“ Mit diesem Aufruf begann Nemeth, gerade in der Zeit der tiefsten Krise, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen. Für manche Leute der Tagespolitik wurde er nun, durch seine Aktivität, zum Mitläufer des Kommunismus, obwohl er wiederum nur einen „dritten Weg“ suchte, und nach der Abkehr vom Stalinismus eine Möglichkeit, „die Bresche, durch welche die Revolution der

Pührung die allgemeine Meinung reffen will, zu erweitern“. — Die rragikomik dieser Haltung schildert ;r dann im nachdenklichen Lustspiel ,Die Reise“. Sein Held, ein alter tfittelschulprofessor, kehrt nach iiner Studienfahrt durch die Sowjetunion in seine Heimat zurück ind wird nun von seinen Freunden ier bloßen Tatsache seines Ausflugs vegen für einen Landesverräter ge-lalten, von den Funktionären aber !ür ein willenloses Werkzeug ihrer Wacht. Die Fragestellung eines leuen Gandhi-Dramas weist in die deiche Richtung: Wie kann das geschichtliche Verhängnis mit fried-ichen Mitteln, etwa durch Erhal-ung der eigenständigen Substanz, gezwungen werden? Nemeth fügt sich nicht der Politik, sondern dem Schicksal, das er als solches erkennen muß, um es meistern zu können, „Die Reise“ zeigt auch, wie sich in den meisten Theaterstücken und Romanen von Nemeth die Fragen der nationalen und der menschlichen Existenz organisch verbinden. Mit Recht verweist Karl Kerenyi in diesem Zusammenhang auf die überraschende Geistesverwandtschaft Nemeths mit den alten Griechen, vor allem mit Sopheokles. Der erste Roman, „Menschliches Schauspiel“, ein mehr seelisches als naturalistisches Panorama des Heimatlandes inmitten der Krise einer zaghaften Erneuerung, ist der gewaltige Auftakt, der weiterklingt und sich in selbständige Motive verästelt, etwa im Roman „Trauer“, in einer Tetralogie („Wagen im September“, „Unterstädter Kirmes“, „Mittwoch Empfangstag“, „Der andere Meister“), im Roman „Wie der Stein fällt“, der im Ungarischen den Titel „Iszony“ trägt was eine Mischung von Ekel, Abscheu und Grauen bezeichnet. Noch augenfälliger ist die Nähe Sophokles' im bisher neunzehn Stücke umfassenden Dramenwerk, besonders in den historischen Dramen: Das persönliche Schicksal steht für das Schicksal der größeren Gemeinschaft die Einzelperson ist zugleich Symbol, die Handlung eine Verdichtung des kollektiven Erlebens, ein geistiges Abbild der materiellen Wirklichkeit, gleichsam ein sakraler Kult. Nicht die Lust am Formulieren, sondern das Ethos ist die bewegende Kraft dieser Werke, Wirklichkeit und Wahrheit, Glück und Ehre, Trieb und Zucht stehen einander gegenüber, wie in „Antigone“ die Leidenschaft und das Gesetz.

Doch entspringt die philosophische Inspiration anderen Quellen als die künstlerische, und die beiden Wege der Erkenntnis, die Nietzsche mit •den Worten apollinisch und dionysisch' bezeichnete, kreuzen einander selten. Die Tragik des Nemethschen Werkes besteht im Antagonismus zwischen abstrakter Fragestellung und konkreter Antwort, zwischen Nüchternheit und Rausch, zwischen Denken und Dichten. Wenn Nemeth im Roman „Wie der Stein fällt“ eine Frauenflgur schafft, die, jeder Sinnlichkeit abhold, an der Liebe ihres von Kraft strotzenden Ehemannes beinahe zugrunde geht und diesen dann mit einer von Pein bewegten Kälte aus ihrem Leben entfernt so ist auch das literarische Problem mit beklemmender Genauigkeit geschildert. In Nelli Käräsz hat sich Nemeth selbst porträtiert Sein Wille, aus der Sphäre des reinen Denkens in die des sinnlichen Erfassens und Gestaltens verzustoßen, sein Ringen um die Gnade, im Denken engelhaft und im Formulieren irdisch sein zu können, wurde hier zur großen Epik.

Zu ihrer Ergründung und zugleich zum Verständnis eines im wahrsten Sinne des Wortes reinen Geistes, der das Gitter seiner Abstraktionen immer wieder zu durchbrechen sucht gibt Nemeth selbst den Schlüssel, in seinem Essay über Prousts Methode: „Derjenige, der hier Prousts Moral verteidigt, ist kein Verfechter einer moralischen Revolution, sondern eher ein Anachoret Was ihn zur Verteidigung veranlaßt, ist nicht eigene Rechtfertigung, sondern das Schuldbewußtsein der Tugend. Er sieht in seinem Leben einen einzigen, grundlegenden, organischen Fehler, aus dem alle anderen Fehler entspringen, er vertraute zu sehr der Askese... Der Adel besteht nicht nur aus Askese, nicht nur aus der stolzen Unnahbarkeit des ,Ich', sondern auch aus der Harmonie der Vorstellung und des Instinktlebens. Die Moral sei nicht der Tyrann der tieferen Seelenschichten, sondern eher ihr Duft... Proust ist eine große Lehre für die Adeligen des Willens“. Als Nemeth diese Zeilen 1932 niederschrieb, stand er im einunddreißigsten Lebensjahr. Seither ist ein gewaltiges Werk entstanden, eine Generation von Jüngern ist aufgewachsen, die Gedankenwelt Nemeths hat für das ungarische Denken gültige Maße gesetzt, sein eigentümliches Prophetentum klare Visionen geschaffen.. Doch das Wort vom Schuldbewußtsein der Tugend blieb gültig, und das Irrationelle, durch Vernunft entzaubert, bewahrt ; weiterhin einen letzten Rest Geheimnis.

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