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Der Christ und der Fortschritt

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Sollte sich jemand finden, der bereit wäre, einen ebenso zeitgemäßen wie substantiellen Katechismus abzufassen, so könnte er heute wohl nicht umhin, auf die Frage einzugehen, wie der Christ es mit dem Fortschritt halten solle. Gewiß ist Fortschritt - oder was dafür gehalten wird - ein „weltlich Ding“; er hätte deswegen im Katechismus nicht mehr zu suchen als etwa philosophische Grundaussagen über die Natur oder den Menschen. Aber die Theologie und damit auch der sich artikulierende Glaube sind nie ohne dergleichen Begriffe und Aussagen ausgekommen; schließlich muß man auch über das Übernatürliche und erst recht über Aufgaben des Menschen in dieser Welt in Begriffen sprechen, die unserer Alltagserfahrung entspringen.

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Sollte sich jemand finden, der bereit wäre, einen ebenso zeitgemäßen wie substantiellen Katechismus abzufassen, so könnte er heute wohl nicht umhin, auf die Frage einzugehen, wie der Christ es mit dem Fortschritt halten solle. Gewiß ist Fortschritt - oder was dafür gehalten wird - ein „weltlich Ding“; er hätte deswegen im Katechismus nicht mehr zu suchen als etwa philosophische Grundaussagen über die Natur oder den Menschen. Aber die Theologie und damit auch der sich artikulierende Glaube sind nie ohne dergleichen Begriffe und Aussagen ausgekommen; schließlich muß man auch über das Übernatürliche und erst recht über Aufgaben des Menschen in dieser Welt in Begriffen sprechen, die unserer Alltagserfahrung entspringen.

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Nun ist Fortschritt - außer in der Technologie und teilweise in der Wissenschaft - gewiß keine Erfahrungsgegebenheit. Man muß keineswegs Christ sein, um die Auffassung, die Menschen bewegten sich unentwegt aufwärts und zum Besseren, und damit auch die gegenwärtige Reformfreudigkeit der Politiker als groben Unfug zu durchschauen; dazu genügt die Bereitschaft, aus der geschichtlichen Erfahrung zu lernen und ein wenig vernünftig zu sein. Aber angesichts der aufgeregt-freudigen Fortschrittsleidenschaft unseres Zeitalters bewegt doch viele Christen die Frage: „Zwingt mich mein christlicher Glaube, ständig als Konservativer in der Ecke zu stehen?“

Auf diese Frage gibt es zunächst vordergründigere Antworten. So könnte man darauf hinweisen, daß Konservative meist gar nicht erst in die Ecke geschickt werden müssen, sondern von selbst dorthin eilen; eigentümlicher- und unberechtigterweise schämen sie sich oft ihrer Einstellung und vertreten sie diese, als ob man es nur aus Trotz tun könnte. Der Gedanke, man könnte konservativ sein aus ganz selbstverständlicher Nachdenklichkeit, ja sogar mit dem berechtigten Stolz dessen, der die Dinge besser als fortschrittsgläubige Nachbarn versteht, kommt heute nur noch wenigen. Ebenso könnte man anführen, was wir Christen in den letzten fünfzehn Jahren zu vergessen scheinen, daß es nämlich seit jeher zur Nachfolge Christi gehörte, daß die Welt einen für töricht hält und nicht mag.

Aber damit ist die entscheidende Frage nicht beantwortet. Sie lautet: „Inwiefern, wenn überhaupt, ist das Christentum wesensmäßig konservativ?“ Viele Christen, auch solche mit einem lebendigen Glauben, würden wohl erwidern, Begriffe wie „fortschrittlich“ oder „konservativ“ seien auf die Haltung des Christen nicht anzuwenden; und wenn überhaupt, müsse der Christ doch eher fortschrittsfreudig sein. Sie haben insofern recht, als die Vorstellung von einer Geschichte, die einen Anfang, eine Heilsmitte und ein Ende hat, durch das Christentum in die ganze Welt kam und der Wille, die Welt zum Besseren zu verändern, jüdisch-christlichen Ur- sprungs ist.

Aber dies ändert nichts daran, daß der Christ, will er seinem Glauben treu sein, erstens insofern konservativ sein muß, als das entscheidende Heüsge- schehen und die verbindliche Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ein geschichtliches Ereignis ist, das der Vergangenheit angehört. Gewiß enthüllt uns jener Geist Gottes, der die Apostel am ersten Pfingsttag packte, dieses Ereignis immer wieder von neuem; aber er fügt nichts hinzu - und enthüllt nichts, was der Christ nicht als ein Wesenselement seines Glaubens an den Herrn wiederzuerkennen vermöchte.

Zweitens hat der Christ heute konservativ zu sein, weü sich die Welt immer rascher nicht nur vom Christentum, sondern auch von denjenigen Wert- oder Ordnungsvorstellungen fortbewegt, auf welchen das Christentum von Anfang an aufbaute und als deren Vollendung die Kirchenväter die Offenbarung Gottes in Christus sahen. Entgegen allen Behauptungen unserer Lehrbücher hat die Neuzeit und haben zumal die letzten Jahrzehnte keine neuen Werte entdeckt, die wirklich gelten und wirklich neu sind. All die Begriffe, von denen heute soviel die Rede ist, von der Fairneß und Toleranz über die Authentizität bis zur „Demokratisierung“ und „Emanzipation“, sind teils verdünnte Abklatsche dessen, was der Christ immer schon hätte hochhalten sollen, teils verlogene Illusionen, hinter denen das „non serviam“ hervorlugt.

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