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Die englische Krankheit
Eine Nation erforscht ihr Gewissen und kommt zum Befund: „Krank, krank”. Das war der Titel eines Beitrages im „Guardian Weekly”. Noch immer beschäftigt die Engländer der Mord an dem zweijährigen James Bulger. Des Mordes verdächtigt werden zwei Zehnjährige. Und so wird über Jugendkriminalität diskutiert -vor dem Hintergrund von drei Millionen Arbeitslosen. Aber auch die öffentliche Moral wird untersucht, und die ist schlecht wie nie zuvor.
Nach einer repräsentativen Gallup-Umfrage grassieren im Königreich Pessimismus und Hoffnungslosigkeit. Nur ein Fünftel der Befragten hegt noch größere Erwartungen für Britannien. Fast die Hälfte gab an, sie wollten in einem anderen Land leben, und mehr als ein Drittel bekannte, keine einzige Sache nennen zu können, auf die sie in ihrem Heimatland stolz wären.
Premierminister John Major bemerkte in einem Zeitungsinterview zum Kindesmord, es sei für die Gesellschaft notwendig, „ein bißchen mehr zu verdammen und ein bißchen weniger zu verstehen”. Man macht sich auch öffentlich Gedanken über den Zusammenhang von individuellem Gewissen und sozialen Bedingungen, die verbrechensfördernd wirken. Manchmal gleitet die Debatte ins Emotionelle und ins Ideologische ab, doch das, was wirklich hinter dieser „englischen Krankheit” steckt, ist nicht auf die Briten beschränkt.
Es geht um die Desintegration einer Gesellschaft, in der als Wert nur das zählt, was bezahlt wird, und in der, wie es der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer formulierte, die bisher gängigen Integrationsmittel, wie Visionen, Traditionen, Rituale und stabile soziale Zugehörigkeiten nicht mehr funktionieren. Wenn dann auch der Ersatz für diese Integrationsinstrumente, nämlich das Wirtschaftswachstum, fragwürdig wird - dann schwinden auch die Reste einer Minimalmoral.
Das, was Heitmeyer die „siegreiche kapitalismuskonforme Entwicklungsrichtung” nennt, hat dazu geführt, daß aus dem „Marsch durch die Institutionen”, den die rebellischen 68er antreten wollten, eine Flucht aus den Institutionen geworden ist. Davon sind nicht nur die Parteien betroffen, sondern auch Kirchen, Gewerkschaften - und die Familie.
Diese Desintegration wird mit einer verstärkten wirtschaftlichen Integration bekämpft, die aber das Übel nur verstärken wird, das sie zu bekämpfen vorgibt. Die Ansätze für eine Reaktivierung moralischer Prinzipien aber scheitern, noch, an allzu starren Strukturen. Und so mußte die „Zeit” dieser Tage konstatieren, daß „die unerfüllten Moralsehnsüchte junger Menschen wie herrenlose Hunde vagabundieren”.
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