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Die Opfer als Helfer

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13. Europagespräch zu Wien, Generalthema: „Europas Neuorientierung“, eines der Einzelthemen: „Europäische Sicherheitskonferenz“: Am Podium: die westdeutsche Staatssekretärin Focke, Österreichs Außenminister Kirchschläger, der rumänische Professor Moldovan.

Der Rumäne benützte die Gelegenheit, dem in der Breschnew-Doktrin konkretisierten Imperialismus der Russen zu opponieren — natürlich in der Verklausulierung, die jener Imperialismus seinen Vasallen aufzwingt. Um so krasser trat hervor, was die beiden Politiker aus dem freien Westen betrieben: BiertLschpolitik auf hochdeutsch, indem sie die expansionistische Europapolitik Rußlands zwar wortreich, aber völlig unreflektiert akzeptierten. Die Bonner Staatssekretärin will mit der von ihr mitverantworteten Ostpolitik „Vertrauen erzeugen“, ohne zu prüfen, was denn die Russen erzeugen, da sie seit einigen Jahren sowohl die nukleare wie die konventionelle Aufrüstung rapid vorantreiben und, um ein symptomatisches Beispiel zu nennen, die Nationale Volksarmee der DDR auf einen Stand gebracht haben, der relativ zur Bevölkerung um ein Mehrfaches über dem der westdeutschen Bundeswehr liegt: von je 10.000 Einwohnern stehen in der DDR rund 290 unter Waffen, in der BRD bloß 83. Und mit der Gläubigkeit jener schönen Seelen, die für Moskau weit wertvoller sind als KPD und DKP zusammen, plädierte Frau Focke für eine industrielle Arbeitsteilung zwischen Ost und West, ohne zuerst einmal die Tschechoslowaken oder die Ungarn gefragt zu haben, ab Arbeitsteilung nicht gerade dasjenige Mittel sei, mit dem Rußland seine Satelliten sowohl ausbeutet als auch militärisch und politisch entmündigt.

Minister Kirchschläger wußte immerhin zu differenzieren, aber am Ende verfiel er dann doch in den neulinken Sprachgebrauch, als er einen „gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß“ herbeiwünschte, durch den der „Aggressionstrieb“ in den „Friedenswillen“ verkehrt werde — der Katholik Kirchschläger hat offenbar die Erbsünde aus dem politischem Kalkül gezogen.

An der vielleicht lebensrettenden Notwendigkeit von Gesprächen — und also auch einer europäischen Sicherheitskonferenz — wird kein ernsthaft Denkender zweifeln. Auch besteht kein Anlaß zu der Vermutung, daß die Russen eine militärische Eroberung Westeuropas planen, auch wenn sie mit ihrem enormen Waffenexport die außereuropäischen Krisenherde in Brand halten; an ihrer Westfront kämpfen sie ausschließlich psychologisch, und ihre Angriffsspitzen sind nicht Panzerbataidlone, sondern jene westlichen Politiker, die ganz einfach nicht wahrhaben wollen, was Politik ist, nämlich: Machtpolitik, und daß das immer noch die des „Do ut des“ ist und nicht der Köhlerglaube an Vorleistungen. Lebensrettend war in der Politik noch nie die Euphorie, aber sehr oft schon die Skepsis — also just jene Geisteshaltung, die zum Schaden von ganz Europa nicht nur der Staatssekretärin Focke und dem Minister Kirchschläger abhanden gekommen ist.

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