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Die veruntreute Zukunft

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Der Sozialismus hat, neben zahllosen anderen Übeln, die Isolierung der Gegenwart, mithin die Nichtigkeit jeweils gegenwärtigen Daseins, verschuldet: die Einschränkung des Begriffs des Sozialen, als Gegensatz zu dem Begriff des Historischen, auf die horizontale Dimension. Das heißt: auf die Ebene dessen, was jeweils derzeitig ist; auf die jedesmalige Mitwelt: als ob irgendeine, gleich welche, dem Konti-nuum extrahierte Aktualität etwas anderes als ein Abstraktum wäre! Und: als ob Genossenschaft nicht auch zu Eltern und Großeltern wie auch zu Kindern und Enkeln walte, und zwar eben so wirklich und wirksam wie zu dem Nachbar.

Diese Preisgabe der historischen Tiefe, der Sozialität in der vertikalen Dimension, rührt von da her, daß Marx, von dem Herrn Professor der Philosophie der Geschichte dazu animiert, und dabei akklamiert von so renitenten wie gelangweilten Söhnchen stinkreicher Eltern, eine der Welt und dem Menschen entfremdete Vergangenheit sich erdichtet und eine der Welt und dem Menschen entfremdete Zukunft uns verheißen — das Historische also zum Gaudium müßiger Phantasterei degradiert, es als fabulös denunziert hat. Womit dem Geschichtsbewußtsein — genauer: unsrer Bewußtheit von Geschichtlichkeit -langsam doch stetig jede reelle Speisung entzogen ward.

An Mißgeburten, gezeugt in der illegitimen Umarmung von gesetzlos gewordenem Judentum und nicht gläubig gewordenem Christentum: an Monstren des ex-zedierenden, nämlich säkularisierten Chiliasmus kann niemand sich messen — sei es nun das Monstrum des Klassenkampfes (welcher in Wahrheit nie stattgefunden: Gehirne sind es, die miteinander ringen), sei es nun das Monstrum einer klassenlosen, der herrschaftsfreien Gesellschaft (des neuen Urwalds, von dem der „real existierende Sozialismus“ in Ost und West eine Ahnung gibt). An solchen Monstren kann niemand sich orientieren oder gar sich identifizieren über die Generationen hinweg: über die der Vorfahren wie über die der Nachfahren hin.

Wir erkennen uns nicht in ihnen; sehen somit nur uns selber. Wir sind wir! Und nach uns die Sintflut!

So wird denn alles, was wir erlebt haben, Wuchs wie Mißwuchs, auf das Milieu geschoben; alles auch vom Milieu her kuriert. So wird, was als Pfund zu wuchern damit gedacht war, nicht als ein Schatz bewertet, gehütet, sondern in Scheidemünzen geschlagen für den Verkehr in den Tempeln von Kunst und Wissenschaft. Und so wird, was gewesen ist, nicht als das, was geschehen ist, nicht als Geschichte begriffen, nicht als Bewegtes und weiter Bewegendes, sondern, zur Soziologie verabseitigt, wörtlich, heißt wirklich, ad acta gelegt. Und wo wird denn endlich - mit Gladstone zu reden — Politik nicht im Hinblick auf die nächste Generation gemacht, sondern bloß auf die nächste Wahl hin; und so kurzfristig denken und leben wir eigentlich alle.

Nun, so denkt und so lebt es sich eben - von der Hand in den Mund, von der Hand in der fremden Tasche —in einer vom sozialistischen Utopismus ebenerdig planierten Gesellschaft: als in einem Alptraum. Wir leben mit einem Zerrbild von der Gesellschaft, da die

Sozialität dogmatisch der Historizität entgegen, der Aktualität aber ungeschaut gleich gesetzt wird.

Denn die Gesellschaft besteht, und sie funktioniert nur, als eine Gemeinschaft der Lebenden, der Verstorbenen und der Künftigen.

Sozialität bloß den Lebenden zu gewähren, doch denen, die hingegangen, und denen, die kommen, sie vorzuenthalten, ist asozial just auch den Lebenden gegenüber. Weil Zukunft nichts als die Prolongation der Vergangenheit durch das Kriterium einer Gegenwart ist, und nichts bringt als das, was der Prüfung standhält, deshalb heißt Zukunft haben: Vergangenheit haben.

Die Zukunft aber ist genau das, was wir selber aus der Vergangenheit machen: eine Vision, oder ein Phantom. Eine verballhornte Vergangenheit wie die Marx'sche haben heißt: eben solch eine Zukunft haben, und, eo ipso, eine hutzlose, also wertlose, also sinnlose Gegenwart.

Und die haben wir ja, bis zum Überdruß (bildlich und wörtlich genommen).

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