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Die wahren Herren Italiens

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Die berechtigte Aufregung über den faschistischen Mummenschanz des Fürsten Borghese ließ einige sehr vitale Probleme der italienischen Wirtschaft und des Sozialsystems in den Hintergrund treten. Während nach wie vor Massenarbeitslosigkeit droht und die reiche Oberschicht in ihrer reformfeindlichen Haltung beharrt, gewinnen die Gewerkschaften immer mehr Einfluß auf die Regierung.

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Die berechtigte Aufregung über den faschistischen Mummenschanz des Fürsten Borghese ließ einige sehr vitale Probleme der italienischen Wirtschaft und des Sozialsystems in den Hintergrund treten. Während nach wie vor Massenarbeitslosigkeit droht und die reiche Oberschicht in ihrer reformfeindlichen Haltung beharrt, gewinnen die Gewerkschaften immer mehr Einfluß auf die Regierung.

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Nachgerade fallen die maßgebenden Entscheidungen in der italienischen Innenpolitik weder im Anschluß an parlamentarische Debatten noch in den Verhandlungen der Regierungsparteien, sondern in den Unterredungen zwischen Ministerratsausschüssen und Vertretern der christlich- demokratischen, sozialdemokratischen und linkssozialistisch-kom- munistischen Gewerkschaften.

Der Gesetzentwurf zur Wohnbaureform sieht vor, daß der Staat in den nächsten Jahren 25 Prozent der Neubauten errichten wird, 500.000 Zimmer pro Jahr. Bisher betrug der staatliche Anteil nur sechs Prozent. Besonders der Volkswohnungsbau nahe der Großstädte soll gefördert werden. Während vor allem in Süditalien tausende Wohnungen leerstehen und ganze Dörfer verlassen sind, ist mit der massenweisen Auswanderung nach dem norditalienischen Wirtschaftswunderdreieck zwischen Mailand, Genua und Turin Italien ein Infrastrukturproblem erwachsen, das dringender Abhilfe bedarf.

Das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit wird mit der wirtschaftlichen Plaute in nächste Nähe gerückt, Colombo hofft ihr durch Beschleunigung der bürokratischen Verfahren zuvorzukommen. Bisher vergingen vom Augenblick der Einreichung eines Baugesuches bis zum ersten Spatenstich durchschnittlich 1310 Tage. Die Tendenz ist unverkennbar, daß da und dort der Staat direkt oder über die sogenannten halbstaatlichen Unternehmen (IRI und ENR den seit 1963 in Mitleidenschaft geratenen Privatunternehmen zu Hilfe eilt und auf diese Weise eine versteckte Verstaatlichung der italienischen Wirtschaft stattflndet. Daß die von den Gewerkschaften vorangetriebene Steuerreform dazu dienen soll, dem Staat zusätzliche Gelder zu beschaffen, um unter dem Vorwand der Durchführung wichtiger Reformen des Wohnbau-, Spitals- und gesamten Gesundheitssektors den Prozeß der Verstaatlichung zu beschleunigen, versteht sich von selbst. Ob Italien bei der rückständigen Gesinnung und korrupten Haltung seiner Reichen, der meisten Unternehmer und fast aller Großgrundbesitzer, ein anderer Weg offensteht, muß bezweifelt werden. Colombo ist es hoch angerechnet worden, daß es ihm gelang, mit sei nen Kompromißvorschlägen sich nicht nur in Rom, sondern auch in Catanzaro durchzusetzen. So haben sich denn die Parteien links von der Mitte zuerst in der Hauptstadt, dann in Kalabrien bequemt, Colombos Lösung der kalabresischen Frage zuzustimmen: Catanzaro bleibt Regionalhauptort und der Sitz der Giunta, während Reggio sich damit begnügen muß, gelegentlich die Regionalversammlung willkommen zu heißen und überdies den Trostpreis eines Stahlwerkes und andere Industrieanlagen erhalten wird. Neue Zwischenfälle stellten aber den Erfolg dieser Zuk- kerbrot-und-Peitschenpolitik bald in Frage. 28.000 Soldaten belagern nach wie vor Reggio Calabria und bemühen sich oft tagelang vergeb-

lieh, auch nur die reibungslose Abwicklung des Eisenbahnverkehrs von und nach Sizilien zu gewährleisten. Daß die Gewerkschaften, nicht d% Parteien, nicht einmal die Koalitionspartner, bei den Verhandlungen zur Wohnbau-, Spitals- und Steuerreform die wichtigsten Gesprächspartner der Regierung sind und selbst die kalabresische Frage nicht gegen ihren Willen gelöst werden konnte, beweist einmal mehr, wer im Grunde genommen die Macht im heutigen Italien ausübt und wie wenig sicher Colombo und sein Kabinett im Sattel sitzen. Unter solchen Vorzeichen ist es fraglich, ob Italien überhaupt noch eine Centrosinistra- Regierung links von der Mitte und nicht schon heute eine eigentliche Linksregierung besitzt. Hinter den drei großen Gewerkschaften, besonders der mächtigen CGIL, steht die KPI, und in der christlichdemokratischen CISL wirkt ein Linkskatholizismus, der die KPI als Teil des rückständigen Establishment verspottet und Colombo lediglich als einstweiliges bequemes Aushängeschild zur Beschwichtigung der immer noch wichtigen, aber verängstigten Privatwirtschaft benützt.

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