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Freimut als Tugend der Journalisten

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In der Karwoche sei auch den Journalisten ins Gewissen geredet: vom obersten Glaubenshüter der r.-k. Kirche und vom neuen Ordinarius für Publizistik der Universität Wien . ..

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In der Karwoche sei auch den Journalisten ins Gewissen geredet: vom obersten Glaubenshüter der r.-k. Kirche und vom neuen Ordinarius für Publizistik der Universität Wien . ..

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Wenn man auf der Treppe vor dem Eingang des Bischofshauses zu Annecy steht, in dem einst der heilige Franz von Sales lebte, so sieht man am gegenüberliegenden Haus die Gedenktafel für Jean-Jacques Rousseau, der hier einige Zeit seines unsteten Lebens verbrachte. So stehen sich auf engem Raum die zwei geistigen

Grundentscheidungen der Neuzeit gegenüber, die in diesen beiden Männern verkörpert sind.

Da ist zunächst Rousseau, der Mann eines anarchischen Aufbegehrens gegen die eingerichtete Welt. Man könnte in ihm den Vater eines* bestimmten Journalismus sehen, dem die Anklage alles Bestehenden zur Hauptsache geworden ist: Es geht eigentlich nur noch darum, aufzuzeigen, daß alles schmutzig und gemein ist.

Dahinter steht im letzten Verzweiflung an der Ziellosigkeit der menschlichen Existenz. Denn Rousseau ist vielleicht der erste, der ganz nachdrücklich von der gemeinsamen Uberzeugung aller großen religiösen und humanistischen Uberlieferungen abgerückt ist, daß der Mensch ein bestimmtes Wozu habe, daß ihm ein innerer Weg vorgezeichnet sei.

Nichts davon ist ihm geblieben, der Mensch ist einfach da. Er hat keinen Weg. Er muß sich selbst einen suchen. Die Lust an der Anklage zielt eigentlich gar nicht mehr auf Besserung. Eigentlich richtet sich die Anklage gegen die Existenz selbst, gegen die Welt, gegen das Menschsein überhaupt. Und die Anklage ist auch zugleich schon Absolution...

Die Rechtfertigung des Menschen ist, daß alle schlecht sind. Und darum besteht seine Gerechtigkeit darin, die Schlechtigkeit aller unerbittlich herauszustellen. An die Stelle der Buße tritt die literarische Selbstreinigung durch die Anklage. Die neue Gerechtigkeit ist das Anklagen, das Denunzieren. Wer könnte leugnen, daß ein nicht ganz geringer Teil des Journalismus heute von diesem Ethos geleitet ist? ...

Aber nun wird es Zeit, sozusagen zur anderen Haustür zu blik-ken, zu Franz von Sales. Daß die Kirche ihn zum Patron der Journalisten erhoben hat, ist nicht eine fromme Äußerlichkeit, wie es sie gewiß bei einer Anzahl von Patro-naten gibt. Die Kirche drückt mit diesem Mann eine Option aus, die kraftvoll im Raum der europäischen Geschichte steht.

Sie ist der Meinung, daß von dieser Option aus Journalismus sich wirklich als Dienst an Fortschritt und Menschlichkeit entfalten, seine große und wahre Bestimmung finden kann.

Franz von Sales hat den Weg aus der Lähmung der Prädestinationslehre Calvins hin zur Freude gefunden, indem er sich entschloß, das Jenseits Gott zu überlassen und ihn jedenfalls auf Erden zu heben, wenn er es schon dort vielleicht nicht mehr könnte. Das hat sein Leben verändert. Es gab ihm den Mut zur Liebe, es war Befreiung von der Fixierung auf sich selbst.

Er schaut nicht mehr um nach sich selber. Er fragt nicht mehr ewig: Was wird aus mir? Er schüttelt den quälerischen Narzißmus ab, der auf dem Grund von Rous-seaus ganzem Werk zu erkennen ist. Er vertraut.

Journalismus-ist nur sinnvoll, wenn es gut ist, die Wahrheit zu erkennen. Er kann eine wirkliche Berufung nur sein, wenn es eine Wahrheit gibt, die gut ist. Dann ist es richtig und notwendig, dieser Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Das Grundvertrauen, daß es das Gute gibt und daß wir ihm zugeschaffen sind, hindert die Arbeit des Journalisten nicht, sondern macht sie eigentlich erst möglich. Es muß die erste Säule eines rechten journalistischen Ethos sein.

Dieses Grundvertrauen kann auch der Nichtchrist finden. Zu unserer Schande müssen wir gestehen, daß es heute vielleicht bei NichtChristen oft lebendiger und ungebrochener ist als in den ehedem christlichen Nationen. Aber es findet seinen tiefsten Grund und seine größte Bestätigung in der Gestalt Jesu Christi.

Er ist es, der uns Vertrauen gibt. Soviel sind wir Gott wert, daß er selbst Mensch wird. Das „Ecceho-mo", das heute meist nur auf Fratzen zeigt, bekommt von ihm her seinen wahren Sinn. „Ecce homo" — das heißt heute meistens: Da seht ihr es wieder, dieses schmutzige Wesen!

Auch Pilatus, der Skeptiker, wollte Ähnliches sagen. Aber ohne es zu wollen, hat er uns anderes aufgedeckt: So ist der Mensch, daß in diesem zerschundenen Antlitz Gottes Gegenwart unter uns aufleuchtet!

Und so müssen wir immer wieder den Menschen zu sehen versuchen — nicht mit dem Pilatusblick, sondern mit dem Blick Jesu selbst. Dann dienen wir der Wahrheit. Dann dienen wir der

Humanität, dem Menschsein des Menschen selbst.

Der zweite Grundentscheid des hl. Franz von Sales könnte mit „Courage" umschrieben werden. Das zugrunde liegende griechische Wort ist weiträumiger und bedeutungsschwerer. Es bedeutet Freiheit und Offenheit, die nichts verschweigt und nichts verhüllt. Es bedeutet besonders auch die Unerschrockenheit Höhergestellten gegenüber.

In der alten griechischen Demokratie hat es auch einen ganz präzisen rechtlichen Sinn. Es bedeutet das Recht des Freien, in der demokratischen Versammlung alles sagen zu dürfen.

Die Gemeinschaft braucht den Mut, daß auch das Unbequeme gesagt wird. Sie braucht vor allem den Mut, daß auch Höheren gegenüber unerschrocken die Wahrheit ausgesprochen wird. Wenn die griechische Demokratie dieses Recht an den Stand der freien Männer bindet, so wollte sie damit sichern, daß dieser Mut nicht zur bloßen Lust am Schmutz degeneriert.

Damit Freimut fugend bleibt, muß er an die Verantwortung des Freien gebunden sein, der selbst auch für die Folgen einsteht, weil es sich um seine eigene Sache handelt. Es ist nicht wahr, daß alles Erfahrbare in gleicher Weise öffentlich werden muß.

Aber es ist natürlich auch nicht wahr, daß Negatives nicht öffentlich benannt werden dürfe; weder in der Kirche noch im Staat gilt dies. Die Diskretion ist grundlegende Tugend der Freiheit und der Freien. Freimut ohne Diskretion wird zur bloßen Geschwätzigkeit.

Diskretion ist der innere Sinn der Unterscheidung zwischen dem, was Öffentlichkeit verlangt, und dem, was ihr nicht zugehört. Der Wurzelgrund, auf dem diese Diskretion gedeihen kann, heißt Liebe: Liebe zum Menschen, Liebe zu der betreffenden Gesellschaft, Liebe zur Gemeinschaft der Kirche, Liebe zur Gemeinschaft der Menschen, Liebe zu Gott, dem Schöpfer und Erlöser.

Liebe hat nichts mit Schönfärberei zu tun; sie kann auch hart sein. Aber sie gibt der Wahrheit das Ziel: aufbauend zu wirken. Ich glaube, daß wir ganz einfach die Liebe zum Menschen wieder lernen müssen

Der Autor ist Präfekt der römischen Kongregation für die Glaubenslehre und hielt diese Predigt am 27. Jänner vor Journalisten im Petersdom.

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