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Die Wissenden und das Leid

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Eine der Hauptfragen, welche viele gläubige und ungläubige Menschen durch Jahrhunderte beschäftigt hat, ist das Problem: Wie kann der gute, allmächtige Gott soviel Leid zulassen? Wie kann dieses Leid mit Seiner unendlichen Güte in Einklang gebracht werden?

Es ist charakteristisch für den Menschen, daß er immer einen „Sündenbock“ braucht, um die eigenen, nicht eingestandenen Fehler, Sünden und Schulden nicht anzuerkennen und sich so sein Lieblings-bild als „Herr der Schöpfung“ unbeeinträchtigt zu erhalten. Bei einer genaueren Untersuchung ergibt es sich aber, daß die meisten Übel, ohne gleich die Theologie zu bemühen, nur durch Menschen geschaffen sind. Theologisch bestehen die Folgen der Erbsünde, von denen wir nach dem Glauben durch Christus erlöst wurden, wenn wir den Willen haben, zum Heil zu gelangen. Doch unabhängig, vom Glauben besteht, als große natürliche Gabe Gottes, die menschliche Intelligenz, die uns nic£t nur als, wenn auch unvollkommene^, Instrument zur Erlösung führen soll, sondern die uns von Gott auch zur Bewältigung von rein irdischen Problemen gegeben wurde. Die Tragik des menschlichen Lebens besteht in der Tatsache, daß leider nicht einmal von dieser „natürlichen“ Intelligenz genügend Gebauch gemacht wird, obwohl dies ausdrücklich von Gott gefordert wird (Genesis, 1, 28—29).

Eine Anwendung dieser Intelligenz wäre die Forschung, wobei darunter im Ursprung nicht nur wissenschaftliche oder humanistische Untersuchungen, sondern auch die Entdeckungen des Alltags gemeint sind,die dem primitiven Urmenschen das Uberleben ermöglicht haben. Doch bald stellte sich der erste große menschliche Intelligenzfehler ein, durch welchen der Wissende meistens trachtet, den Unwissenden durch sein Wissen zu beherrschen. Nun gibt es freilich viele Menschen, die Mehrzahl, deren intellektuelle Fähigkeiten unter dem Durchschnitt stehen, doch, ob sich die „Intelligenten“ damit abfinden oder nicht, gehören auch diese intellektuell „Schwachen“ nun einmal zur Menschheit, und es ist bestimmt eine der Grundlagen der christlichen Nächstenliebe, daß die Minorität der

„Starken“ den vielen „Schwachen“ beistehen soll, wie auch die „Schwachen“ sich untereinander je nach den verschiedenen Fähigkeiten ergänzen sollen. Doch selbst wenn die christliche Nächstenliebe nicht im Spiel wäre, ist das geizige Aufspeichern jedes Resultates der menschlichen Forschung für besondere individuelle Zwecke, die nicht der Menschheit im allgemeinen dienen, kurzsichtig und fördert in unvorstellbarem Maße das menschliche Leid. Die Tendenz der Wissenden, nicht nur die Unwissenheit der weniger fähigen Majorität zu ihren Zwecken auszunützen, sondern sogar untereinander nicht mitzuarbeiten und, im Gegenteil, sich gegenseitig zu bekämpfen, um einen möglichst definitiven Vorrang einzunehmen, ist die „causa prima“ und vielleicht „unica“ fast aller Katastrophen, die das menschliche Leben bedrohen. Also wäre es wieder einmal der Hochmut der Erbsünde, die der Intelligenz einen dermaßen bösen Streich spielt? Nein, nicht nur das, wir begegnen hier auch einem intellektuellen Fehler bei der Wertung von Problemen.

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