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Harsche Kritik am „Weißbuch”

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Das „Weißbuch” von EU-Präsident Jacques Delors hat neben positiven Reaktionen auch viel Ablehnung erfahren.

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Das „Weißbuch” von EU-Präsident Jacques Delors hat neben positiven Reaktionen auch viel Ablehnung erfahren.

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Im Vorfeld des Gipfels der Europäischen Union vom letzten Wochenende zur Ankurbelung der Wirtschaft und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (Seite 10) hatte es einige Querschüsse und Kritik gegeben, nicht zuletzt wegen der Frage der Finanzierung des Investitionsprogramms. Natürlich sind alle für ein solches Programm - wenn es die anderen bezahlen. Von deutscher Seite wurde beispielsweise kritisiert, daß dieses den Bemühungen zur Be-duktion der Budgetdefizite zuwiderliefe. Auch die Idee einer Euro-Anleihe für das Programm stieß auf wenig Begeisterung, teils aus rechtlichen Gründen, teils, weil es die Kapitalmärkte stark belasten würde.

In der Finanzierungsfrage wird von den Kritikern jedoch häufig übersehen, daß es sich dabei in gewissem Ausmaß lediglich um eine Umschichtung von Ausgaben handeln würde, denn auch die Finanzierung der derzeitigen Arbeitslosigkeit verschlingt ja Unsummen, nämlich etwa 400 Milliarden DM in allen zwölf Mitgliedsländern zusammen, 80 Milliarden DM allein in Deutschland. Erhebliche Teile dessen, was in das Infrastrukturprogramm investiert wird, erspart man bei der Unterstützung von ansonsten Arbeitslosen.

Auch den Vorschlag weiterer Zinssenkungen hatten schon die Finanzminister in einer Vorbesprechung zum Gipfel wenig goutiert: Das Weißbuch hatte dazu angeregt, die Zinssätze um zwei bis drei Prozentpunkte zu verringern; nicht nur, um die Konjunktur zu beleben, sondern auch, um die Wechselkurse der europäischen Währungen zu entlasten und die Exporte dadurch konkurrenzfähiger zu machen. Die Finanzminister hatten das als gefährliches Spiel und auch als Eingriff in die Unabhängigkeit der nationalen Notenbanken empfunden.

Die Hüter der reinen Marktlehre wiederum sahen ein Heraufdämmern einer neuen Ära des Interventionismus und der staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramme. Doch wenn der Nicht-Interventionismus Massenarbeitslosigkeit und die Gefahr sozialer Unruhen und politischer Badikalisierung produziert...?

Letzten Endes aber sind das Weißbuch und die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Kommission für die Mitgliedsländer am Gipfel freundlich und zustimmend zur Kenntnis genommen worden.

Es muß aber betont werden, daß es sich dabei um Vorschläge und Empfehlungen handelt, die nach den seit 1. November gültigen Bestimmungen des Vertrages von Maastricht zwar zu befolgen sind, doch Sanktionen für den gegenteiligen Fall gibt es nicht. Die heikle Frage der Finanzierung jedenfalls wurde an die Finanzminister zurückdelegiert. Wie ernsthaft die einzelnen Regierungen jedoch an die Lösung der wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten in Europa herangehen, wird man in den nächsten Jahren mit Hilfe der Konzepte des Weißbuchs messen können. Insofern könnte ein neuer Anfang gemacht worden sein.

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