Und die Schuld trägt immer der SCHULDNER

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Das finanzkapitalistische Modell schädigt den Staat und die Unternehmen. Es ist die erste Ursache der Schuldenkrise, deren erstes großes Opfer nun Griechenland ist.

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Das finanzkapitalistische Modell schädigt den Staat und die Unternehmen. Es ist die erste Ursache der Schuldenkrise, deren erstes großes Opfer nun Griechenland ist.

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Es ist ein rätselhaftes Phänomen: In den 1950erund 1960er-Jahren baute die Politik den Sozialstaat aus und regulierte die Arbeits- und Finanzmärkte, gleichzeitig herrschte Vollbeschäftigung und die Staatsschuldenquote sank. Seither wurde der Staat angeblich "schlanker", aber Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen.

Nach herrschender Weltsicht hätte die Entwicklung umgekehrt verlaufen müssen. Denn je freier die Märkte und je "zurückhaltender" der Staat, desto besser. Und wo ein Problem in Erscheinung tritt, dort lägen auch seine Ursachen: An der Staatsverschuldung ist der Staat schuld, an der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen (zu teuer).

Mainstream-Ökonomen ignorieren daher die langfristige Entwicklung und konzentrieren sich auf die aktuelle Symptomatik: Verfehlt ein Land sein Budgetziel, wird "more of the same" verordnet. Sparauflagen dämpfen die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit steigt und damit auch die Staatsverschuldung -eine fatale "Rückkoppelungsdynamik".

Deutsche Rezepturen

Doch halt! Deutschland hat ja auch gespart und überdies den Arbeitsmarkt liberalisiert sowie Löhne und Arbeitslosengeld gekürzt. So wurde aus dem Nachzügler die dynamischste Ökonomie Europas! Ja, aber auf Kosten ihrer Partner. Das zeigt eine systemische Analyse.

Die ökonomische Dynamik ergibt sich aus der Interaktion von vier Sektoren: Die privaten Haushalte, die Unternehmen, der Staat und das jeweilige Ausland. Die Haushalte geben weniger aus als sie einnehmen, sie sparen. In der Prosperitätsphase haben die Unternehmer das Sparen der Haushalte via Investitionskredite in Maschinen und Arbeitsplätze verwandelt: Ihr Defizit war annähernd so hoch wie die Überschüsse der Haushalte. Die Salden des Auslands (Leistungsbilanzen) waren ausgeglichen, also auch die Budgetsalden der Staaten -die Summe von Überschüssen und Defiziten ist ja immer Null.

Warum haben die Unternehmer permanent Defizite gemacht? Weil Investieren profitabel war: Durch Finanzspekulation war nichts zu holen (feste Wechselkurse, stabile Rohstoffpreise, niedrige Zinsen und -in Europa -schlafende Aktienbörsen), Rezessionen waren angesichts einer aktiven Wirtschaftspolitik nicht zu befürchten, der Ausbau des Sozialstaats stimulierte den Konsum.

Die realkapitalistische Spielanordnung scheiterte an ihrem Erfolg: Anhaltende Vollbeschäftigung stärkt die Gewerkschaften, sie fordern Mitbestimmung und Umverteilung, die Zahl der Streiks steigt, der Zeitgeist dreht nach links, die Sozialdemokratie bekommt Aufwind. Bedrängt wenden sich die Unternehmer(vertreter) der neoliberalen Weltanschauung zu.

Mit der Deregulierung der Finanzmärkte Anfang der 1970er-Jahre beginnt die finanzkapitalistische Krisenphase. Schwankende Wechselkurse, Rohstoffpreise, Aktienkurse und Zinssätze erhöhen die Unsicherheit von Realinvestitionen und gleichzeitig die Gewinnchancen von Finanzspekulation. Die Unternehmen reduzieren Investitionen und Kreditaufnahme, seit mehr als 10 Jahren sind sie zu einem Überschusssektor geworden.

Dies ist die erste Hauptursache der steigenden Staatsverschuldung. Denn nun sind es die Staaten, bei denen jenes Defizit hängen bleibt, das den Überschüssen der Haushalte entspricht: Bei abgeschwächter Realkapitalbildung werden immer weniger Arbeitsplätze geschaffen, trotz Zunahme prekärer Jobs steigt die Arbeitslosigkeit, dies belastet die Sozialbudgets und dämpft die Staatseinnahmen.

Der zweite Hauptgrund besteht darin, dass der Zinssatz seit 1980 fast permanent über der Wachstumsrate liegt. Unter dieser -für den Finanzkapitalismus typischen - Bedingung darf ein Schuldner nur weniger Kredite aufnehmen als er an Zinsen für die Altschuld zu bezahlen hat. Um einen solchen "Primärüberschuss" zu erzielen, reduzierten die Unternehmen ihre Kreditaufnahme und damit die Investitionen. Da gleichzeitig auch die privaten Haushalte Primärüberschüsse erzielen (sie sparen mehr als ihre Zinserträge), konnte es dem Staat nicht gelingen, selbst einen Primärüberschuss zu erreichen. Also steigt die Staatsverschuldung stärker als das BIP.

Die selige Leistungsbilanz

Einzelne Staaten können auch unter diesen Bedingungen ein ausgeglichenes Budget erreichen, aber nur durch Überschüsse in der Leistungsbilanz (= Defizite des Auslands). Das ist der Weg Deutschlands, besonders seit Gründung der Währungsunion. Diese erfordert, dass die Lohnstückkosten im Ausmaß der Zielinflationsrate von 2 Prozent steigen. In den übrigen Euroländern stiegen sie bis 2008 sogar um 2,5 Prozent pro Jahr, doch Deutschland hielt sie konstant und verbesserte die eigene Position gegenüber seinen Euro-Partnern um 19 Prozentpunkte.

Dies dämpfte die deutschen Importe und stimulierte die Exporte. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 stützte Südeuropa mit einer sehr starken Ausweitung seiner Importe die damals stagnierende deutsche Wirtschaft (5 Millionen Arbeitslose), die Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz weiteten sich aus: Mit den deutschen Überschüssen wurden die Defizite Südeuropas finanziert, primär durch Kreditvergabe deutscher und französischer Banken.

Fazit: Im Bereich der Makroökonomie stellt die Diagnose "Der Schuldner ist schuld" einen intellektuellen Supergau dar. Diese Symptomsicht liegt aber den Fiskalregeln der EU zugrunde. Auch die Aufforderung, die anderen Länder mögen dem Vorbild Deutschlands nacheifern, stellt eine logische Unmöglichkeit dar (alle Länder müssten Leistungsbilanzüberschüsse erzielen). Doch innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Opfer dieses "Kurzschlusses" sind Millionen Menschen in Europa.

Die falsche Navigationskarte führte Europa in eine Depression, sie tritt beim schwächsten Glied - Griechenland -am deutlichsten in Erscheinung. Der Symptomträger hilft den Eliten, den systemischen Charakter der Krise und ihre eigene Mitschuld zu verdrängen: Die "Pleite-Griechen" leben in einem abgewirtschafteten Staat, faul, aber schlau.

Rekapitulieren wir: Vom Eurobeitritt (2001) bis zur Finanzkrise (2008) wächst die griechische Wirtschaft enorm (+27,5 Prozent gegenüber +9,5 Prozent in Deutschland), aber konsumgetrieben, das Defizit der Leistungsbilanz steigt dramatisch. Die Finanzkrise deckt die Schwächen auf und die Finanzalchemisten erfinden ein neues Spiel: die Spekulation auf den Staatsbankrott. Die Politik greift nicht ein (wie Draghi später im Sommer 2012), sondern erhebt "die Märkte" zum Richter, der mit den hohen Zinsen gerechte Strafen verhängt. Und Merkel möchte die Anti-Griechenland-Stimmung im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen nützen.

Bankenauszahlung

Zweistellige Zinsen erzwingen im Mai 2010 den Rettungsschirm. IWF-Experten stellen fest: Die griechischen Schulden sind untragbar und müssen umstrukturiert werden samt Verlusten der Gläubigerbanken. Die Politik verhindert dies: Griechenland muss zusätzliche Kredite bei öffentlichen Stellen aufnehmen (IWF, EZB, Rettungsschirm), die deutschen und französischen Banken werden ausbezahlt.

Die Kredite werden an die brutalsten Sparauflagen der Geschichte gebunden (die Maßnahmen von Reichskanzler Brüning 1930/32 bzw. von Irland und Portugal waren dagegen sanfte Verschlankungskuren): Das BIP schrumpft um 25 Prozent, die Arbeitslosigkeit verdreifacht sich, annähernd 40 Prozent der Bevölkerung haben keine Krankenversicherung mehr, tausende Menschen sterben vor der Zeit.

Die Bevölkerung kann nicht mehr und stimmt deshalb für Syriza. Diese fordert ein Ende der Austeritätspolitik. Für einen solchen Kurswechsel zurück zu einem sozialen Europa brauche es einen EUweiten Schuldenerlass und eine expansive Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und Staatsverschuldung.

Dass die neue Regierung nicht als Bittsteller auftrat, sondern die Politik der christ-und sozialdemokratischen Eliten in ganz Europa kritisierte, war zu viel.

Es entwickelte sich ein Glaubenskrieg, also ein "Rendez-vous mit der Macht", und da stand es 18 zu 1. Die Verhandlungen waren daher sinnlos, hatten aber - aus Sicht der 18 "guten" Länder - einen Zweck: Griechenland im Euro halten (alles andere käme zu teuer) und die Syriza-Regierung los werden.

Doch mit dem Ausgang des Referendums erwies sich die griechische Demokratie wieder als nicht "marktkonform". Eine Gelegenheit zum Lernen.

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