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Im Wohlstandsschatten steigen die Selbstmordziffem

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Ein internationaler Kongreß von Medizinern, Psychologen und Sozialwissenschaftlern, der sich in der finnischen Hauptstadt mit den Ursachen der steigenden Selbstmordwelle in der Welt befaßte, mußte die entmutigende Feststellung machen, daß allem Anscheine nach, der wachsende Wohlstand und das Streben nach immer mehr Reichtum die wesentlichsten Ursachen des Freitodes sind - und daß es kein Mittel gibt, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Dieser internationale Kongreß dürfte wohl vor allem deshalb in eines der nordischen Länder verlegt worden sein, weil nach allgemeiner Auffassung das Selbstmordproblem in diesem Teile der Welt eine besonders große Rolle spielt und man von den Wissenschaftlern dieser Länder wertvolle Hinweise auf seine U rsachen erwartete. Verschiedene schwedische Versuche der letzten Zeit, die bestehende Situation zu verschönern, wurden auch tatsächlich von einer schwedischen Selbstmordforscherin, der Oberärztin Dr. Ruth Ettlinger, mit Entschiedenheit als Irreführung zurückgewiesen. Wenn hier eine Besserung zu bemerken ist, sagte Frau Dr. Ettlinger, dann nur in den künstlich frisierten Statistiken; in Wirklichkeit nehme die Zahl der Selbstmorde, besonders bei Frauen und Jugendlichen, immer noch zu, und hier seien die sozialen Zusammenhänge klar erkennbar.

Die Jugendlichen, die nach langer Lernzeit und voll von Erwartungen die Schulen verlassen, müssen oft feststellen, daß man für sie keine Verwendung hat. Die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen ist in einer Zeit der ständig schrumpfenden industriellen Tätigkeit größer als unter den Erwachsenen. Unsicherheit und Ratlosigkeit, das Gefühl, unnütz in den Tag hinein zu leben, muß in vielen Fällen zum Lebensüberdruß führen, bevor das Leben noch richtig begonnen hat.

Bei den Frauen sind die Zusammenhänge noch klarer erkennbar; das Streben nach einer Steigerung des Lebensstandards, das teure Auto, die wachsenden Ansprüche der Kinder, zwingen die Frauen hinaus ins Arbeitsleben. Sind Kleinkinder vorhanden, dann kann ihre Unterbringung und Beaufsichtigung während der Arbeitszeit eine schwere zusätzliche seelische Belastung der Mutter darstellen. Die Probleme häufen sich, das Schuldgefühl nimmt, trotz aller Aufopferung, zu, und schließlich brechen die Frauen unter dieser Belastung zusammen.

Alle nordischen Länder leiden unter diesen Problemen, doch am schwerwiegendsten sind sie in Schweden, dem reichsten dieser Länder, am geringsten in Norwegen, dessen gutes Abschneiden bei einem Vergleich von dem finnländischen Soziologen Erik Allardt und einer Forschergruppe der Universität in Helsingfors eingehend untersucht worden ist. Die Forscher kamen - nicht unerwartet - zu dem Schluß, daß der materielle Reichtum wohl in Schweden den höchsten Stand erreicht hat, daß man jedoch in Norwegen, bei aller Wirtschafts- und Zukunftsplanung überhaupt, den Beziehungen der Menschen zueinander und ihrer Stellung in der modernen Gesellschaft viel größere Aufmerksamkeit geschenkt hat als in den anderen nordischen Ländern. Wie groß die Wirtschaftsprojekte, mit denen man sich in Norwegen beschäftigt, auch sein mögen, man nimmt immer und in erster Linie auch Rücksicht auf die lokalen Gegebenheiten und auf die Menschen. Nur in Norwegen ist eine Bewegung denkbar, die sich dafür einsetzt, die traditionellen Erwerbszweige - die Landwirtschaft, die Schiffahrt und die Fischerei - vorrangig, noch vor der so viel gepriesenen Erdölwirtschaft, zu fördern. Von Schweden ließen sich dagegen zahl reiche Fälle anführen, in denen man trotz des erbitterten Widerstandes der lokalen Bevölkerung, eine Ausbeutung der Bodenschätze und des Waldes erzwingt, die einen verarmten Boden und unreparierbare Schäden zurücklassen muß.

Erik Allardt stellte fest, daß ein ge- wißes Minimum an materiellem Standard notwendig ist, um einen Zustand physischen und psychischen Wohlbefindens zu erreichen, sobald aber dieses Minimum erreicht ist, lassen sich durch ein angestrengtes Weiterklet- tem auf der materiellen Stufenleiter die sozialen Verhältnisse und die Beziehungen der Menschen zueinander nicht mehr verbessern: der Egoismus und die zunehmende Vereinsamung beginnen das Bild zu prägen und führen schließlich in eine ausweglose Situation.

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