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Opfer und Gestalter

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Im Schatten des Zweiten Weltkriegs hat der deutsche Nationalsozialismus ein Vernichtungswerk organisiert, das Dimensionen angenommen hat, die heute noch vielen unglaublich erscheinen: Mit dem Tarnwort „Endlösung der Judenfrage” wurde eine Tötungsmaschinerie in Gang gesetzt, in die Millionen hineingerissen wurden. Wenige Zehntausende konnten sie überleben, die meisten krank, zerstört, ausgebrannt — wohl jeder für immer gezeichnet. — Nur ganz wenige hatten die Kraft, die Erlebnisse jener Jahre zu verarbeiten. Einer von diesen ist H. G. Adler.

1910 in Prag geboren und dort aufgewachsen, vollendete er in der Stadt seine Studien, in der sich verschiedene Kulturen gegenseitig befruchteten, in der das deutschsprechende Judentum Persönlichkeiten hervorbrachte, welche die geistige Entwicklung des 20. Jahrhunderts maßgebend beeinflußten. Durch die Besetzung der Tschechoslowakei wurde Adlers Wirken an einer Prager Volkshochschule jäh unterbrochen. Der Weg durch die Konzentrationslager, der Verlust seiner Familie blieb auch ihm nicht erspart.

Eine Reihe glücklicher Fügungen brachte es mit sich, daß Adler überlebte und in ąeine Heimat zurückkehren konnte. Es ist typisch für diesen Mann, daß er sich in Prag sofort der Erziehung von Kindern widmete, welche die Konzentrationslager ebenfalls überlebt hatten; und nichts kennzeichnet seine Tätigkeit besser als die Tatsache, daß Kinder, die damals bei ihm einen Halt fanden, bis heute in dankbarer Freundschaft mit ihm verbunden sind.

Seinen scharfen, analytischen Verstand und seine umfassende Bildung setzte Adler dafür ein, um die Phänomene zu beschreiben, welche sich in der Welt der Lager herausbildeten. Seine Bücher über Theresienstadt sind Beispiele dafür, wie die historischen Fakten einer solchen Zwangsgemeinschaft festgehalten werden können, wie die Soziologie des Lagerlebens zu studieren und darzustellen ist. Neben vielen Aufsätzen und Artikeln zeitgeschichtlichen Inhaltes hat Adler sin Jahrzehnt seiner Arbeitskraft dem Studium der Deportation der Juden aus „Großdeutschland” gewidmet — das kürzlich erschienene umfangreiche Werk „Der verwaltete Mensch” ist das Ergebnis dieser Tätigkeit. Keiner, der sich mit diesem finstersten Kapitel unserer Zeit befaßt und befassen wird, kann an Adlers Werk Vorbeigehen — jeder kann von ihm lernen.

Das wäre übergenug für das Lebenswerk eines Mannes, der in seiner Lebensmitte physisch geschädigt und psychisch so schwer verletzt worden ist. Adlers Wir ken beschränkt sich aber nicht auf zeithistorische Studien. Seine Erlebnisse hat er auch dichterisch gestaltet. In kleinen, seltsam verhalten geschriebenen Erzählungen, in einem großen, zusammenfassenden Werk mit autobiographischen Zügen — dem Roman „Panorama” — spiegelt sich die menschliche Reaktion auf die Unmenschlichkeit des deutschen Nationalsozialismus wider, einmal mit anklagender Schärfe, einmal mit auf eine andere Ebene entrückter Distanz, immer von einem

Humanismus getragen, der sich nicht selbst plakatiert.

So urteilt Benno Reifenberg über Adlers Erzählung „Eine Reise”: „Im Grunde wird das Ungeheuerliche selbst kaum, beschrieben, vielmehr am Maß des Anständigen, des Vertrauten, des Humanen sichtbar gemacht.” — „Panorama” wird von der Kritik so eingeschätzt: „Das Entscheidende ist, daß in dem Roman das Persönliche und Private ins allgemein- Menschliche gewandelt und gesteigert ist. Es wird in ihm ein progressiver Lebenslauf in einer großartigen Komposition gestaltet”

Ja, der Lebenslauf von H. G. Adler, der seit 1947 in London lebt und wirkt, kann als „progressiv” bezeichnet werden. Wohl ist auch sein Leben durch das KZ gezeichnet. Er hat jedoch die Gabe und die innere Stärke, aus diesem Bruch positive Kräfte zu entwickeln. — London liegt weit vom mitteleuropäischen Raum entfernt, dessen kulturelles Klima Adler gebildet hat. Dennoch scheint es in der letzten Zeit Tradition zu werden, daß Adler im Herbst nach Wien kommt — jenem Ort, in dem seine Stimme noch am besten verstanden werden kann, seitdem der Weg in seine Heimatstadt Prag „unwegsam” geworden ist. Er soll es fühlen und wissen, wie willkommen er hier bei uns ist, der fern von geschäftstüchtiger Publicity schreibt. Denn er hat etwas zu sagen.

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