7030935-1989_30_08.jpg
Digital In Arbeit

Poeten als Zeugen

Werbung
Werbung
Werbung

Dichtung ist zwar niemals einfachdeterminierte Widerspiegelung des realen Lebens, aber sie entsteht aus den vielfältigen Reaktionsmöglichkeiten dichterischer Imaginationskraft auf das Leben und kann damit oft Seismograph von Lebensformen in Raum und Zeit sein. Dichtung reagiert auch ihrer Natur nach oft empfindlicher und intensiver auf Unterdrük- kung, Versklavung und Unrecht als andere Phänomene. Es ist kein Zufall, daß etwa die vietnamesische Dichtung seit Beendigung des Vietnam-Krieges fast ausschließlich und die tschechische Dichtung seit 1968 weitgehend außerhalb des eigenen Landes im Exil stattfinden. Hunderte von Autoren sitzen in diesem Augenblick in unserer Welt in Linksoder Rechtsdiktaturen im Gefängnis und noch mehr essen das bittere Brot des Exils.

Es liegt dabei in der Natur der Sache, daß sich die politischen und staatlichen Unterdrücker jeweils verschiedener Formen einer Rechtfertigungspropaganda bedienen, welche in ihrer durch Dummheit und Haß beschränkten Weise po- temkinsche Dörfer errichtet, die ein in hundertfacher Eindringlichkeit wiederholtes Lügen- oderTeilwahr- heitsbild entwirft. Man denke nur an die gegenwärtige Lügenpropaganda der Regierung in China. Umgekehrt sind es Autoren von Dichtung, denen es - als Zeugen der Wahrheit, Freiheit und Menschenwürde - ernstes und echtes Anliegen ist, für richtige Diagnosen und Iherapievorschläge jeglicher unverantwortlicher Freiheitsunterdrük- kung zu sorgen.

Es ist dabei kaum glaublich, wie weit Störmanöver der Unterdrük- kung selbst in freien Staaten reichen. Als ich etwa vor kurzem eine Anthologie von Erzählungen deutschsprachiger Exilautoren als Taschenbuch in hoher Auflage im Insel-Taschenbuch-Verlag herausgab, da ereigneten sich mehrere eigenartige „Betriebsunfälle“. So fiel etwa bei der Herstellung eine wichtige, politisch besonders brisante bibliographische Notiz heraus, es gab eine schwer erklärliche Rekordzahl an Remittenden-Exem- plaren und bei einer aus diesem Grund gestarteten Rezensions- Kampagne war es zuerst einmal nicht möglich, die Besprechungsexemplare ausgeschickt zu erhalten.

Der Grund für diese Störmanöver ist denkbar einfach. Seit mehr als einem Jahrzehnt bemüht sich ein Propaganda-Apparat angeblich fortschrittlicher Professoren und Kritiker unter Leitung undBeistand wohlmeinender DDR-Kräfte ein Bild der deutschsprachigen Exilliteratur aufzurichten, das so aussieht, daß die einzige Exilliteratur jene durch Hitler verursachte darstellt, innerhalb derer die Gruppe der kommunistischen Autoren die vorgeblich wichtigste ist und zudemnatürlich eine „demokratische“ Rolle spielt. Die von mir zusammengestellten literarischen Texte allein - die Exilliteratur vor Hitler vom 18. Jahrhundert an und darü ber hinaus Exilliteratur nach Hitler, auch die Literatur der Flüchtlinge aus der DDR in den Westen - ziehen diesem potemkinschen Propaganda-Dorf das Fundament weg.

Dabei ist im Grunde die Vertreibung und Ausklammerung von Exilautoren aus jeglicher Nationalliteratur für diese selbst in doppeltem Sinne von Nachteil. Die bedeutenden Exilautoren verstehen sich in der Regel als Vertreterund Fortsetzer der Kulturtradition ihres eigenen Ursprungslandes. Sie stellen einerseits eine ungeheure Bereicherung der Literatur und Kultur dieses Landes und andererseits einen wertvollen Teil von dessen Gewissen dar, sodaß sie aus ihrer eigenen Nationalliteratur eigentlich nicht mehr weggedacht werden können. Was wäre etwa die deutsche Literatur ohne Thomas Mann oder Alfred Döblin oder die österreichische Dichtung ohne Robert Musil und Hermann Broch.

Abgesehen davon, daß das Werk bedeutender Autoren über den eigenen nationalen Bereich weit hinausragt, spielt das Werk der Exilautoren vor allem für ihre eigene Nationalliteratur eine große und wichtige Rolle und es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß es nur wenige Generationen, ja vielleicht nur eine einzige brauchen wird, ehe diese Autoren, ihr Leben und ihre Werke „daheim“ wieder sehr gefragt sind. Oft ist aber dann vieles aus der Exilzeit verloren gegangen. Was wissen Wir heute über Andrej Bjely in Berlin oder über Alexandr Kuprin in Paris?

Aus diesem Grund hat Professor AntoninMestan, ein Exil-Tscheche, der an der Universität Freiburg lehrt, angeregt, in Wien ein Archiv von Materialien (Manuskripte, Briefe, Dokumente) von gegenwärtigen Exilautoren der mittel- und osteuropäischen Länder zu gründen. Es wäre dies ein künftiger Wertzuwachs einer österreichischen Institution von größter Bedeutung und zudem wäre auf lange Sicht den einzelnen Literaturen und Kulturen der entsprechenden mittel- und osteuropäischen Staaten ein großer Dienst erwiesen.

Denn sogar wenn manche Kräfte dort im Augenblick einem solchen Unternehmen nicht unkritisch gegenüber ständen, ist es doch nur eine Frage der Zeit, ehe die ganze Nation einschließlich ihrer Regierung nichts als Dank und Freude dafür empfänden. Man stelle sich nur vor, in Wien wäre bereits 1956 systematisch begonnen worden, Zeugnisse der ungarischen Exilliteratur zu sammeln I Wien wäre zweifellos der gegebene Ort dafür, nicht nur infolge seiner geographischen Lage, sondern auch infolge seiner geschichtlichen Tradition.

Der Autor i«t Professor für Germonictik an der State Univeraity of New York

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung