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Sag's den Zeitgenossen mit Worten der Alten

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Was bis jetzt weder Historikern noch Politikern gelungen ist, gelingt immer mehr der Kunst: Geschichte wird nicht mehr als etwas Vergangenes, das uns nicht mehr berührt, gesehen, sondern ähnlich wie es die Psychoanalyse mit der Kindheit und Vorkindheit des einzelnen tut, ist man immer mehr versucht, Historisches in die Jetztzeit, in unser heutiges Leben, zu integrieren.

Während Besucher in Köln scharenweise anstehen, um die Parler-Ausstellung zu sehen, versammelten sich kürzlich in Salzburg rund 70 Wissenschaftler, um über „Die Rezeption mittelalterlicher Dichter und ihrer Werke in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts“ zu sprechen.

Im Vordergrund des von den deutschen und österreichischen Germanisten Jürgen Kühnel, Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller veranstalteten Symposions stand die Resonanz, die die mittelalterliche Literatur im 19. und 20. Jahrhundert fand. Die etwa zwanzig Referenten, die sogar aus Polen, Griechenland und den USA angereist kamen, zeigten auf, welches Mittelalter-Verständnis die Brüder Grimm, Ludwig Tieck, Friedrich Hebbel, Clemens Brentano, Friedrich Hölderlin, Ludwig Uhland und Richard Wagner hatten, was Wissenschaft und Literatur in der DDR am „Tristan“-Stoff ergiebig finden und wie moderne Autoren mittelalterliche Themen verarbeiten.

Da Rezeption vor allem etwas über die Rezipienten aussagt und weniger über die rezipierten Autoren und ihre Werke, standen das Bewußtsein und die gesellschaftliche Situation des 19. und 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt dieser Tagung. So führte der Altgermanist und Wagner-Spezialist Peter Wapnewski in seinem Festvortrag sehr anschaulich aus, wie die mittel-

„Wie die mittelalterliche Gedankenwelt in den Wagner-schen Dramen von seiner eigenen Philosophie weitgehend überdeckt, wenn nicht ausgeschlossen wird“ alterliche Gedankenwelt in den Wag-nerschen Dramen von seiner eigenen Philosophie weitgehend überdeckt, wenn nicht sogar ausgeschlossen wird.

Wie bedenkenlos die Romantiker des 19. Jahrhunderts Vorlagen aus dem Mittelalter ihrer Ideologie anpaßten, zeigt sich auch in ihren „Übersetzungen“ erotischer spätmittelalterlicher Gedichte: Ein geradezu frivoles Reimpaargedicht, in dem die Entstehung, Folgen und Symptome der Syphilis referiert werden und das im Mittelalter ob seiner Details und Paradoxien Interesse fand, wurde etwa in „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen, allerdings kaum wiederzuerkennen- nicht als spätmittelalterliche Moraldidaxe, sondern als „stubenreines“ Lehrgedicht für männliche Jugendliche, das im historischen Kontext auch als Aufruf zur nationalen Erneuerung gelesen werden konnte.

Hoffmann von Fallersleben glorifiziert dieses Nationalbewußtsein in seinem „Deutschlandlied“, dessen Klänge heute manchem Gänsehaut erzeugen. Der Tübinger Germanist Kurt-Herbert Halbach zeichnete die Hymne vom Entstehen des Liedes bis zu seiner „gefährlichen Institutionalisierung“ nach. Die dabei gezogenen Verbindungslinien zu thematisch verwandten Gedichten Hölderlins, Schillers und Walthers von der Vogelweide erbrachten faszinierende Einsichten in den Prozeß der Herausbildung eines literarisierten Nationalbewußtseins.

Trotz all dieser Verfälschungen kann ein Verdienst der Romantiker kaum hoch genug eingeschätzt werden, nämlich daß sie die Handschriften erschlossen und teilweise vor dem Vergessenwerden bewahrt haben.

Heute greifen wiederum Autoren oft mittelalterliche Stoffe auf, manchmal als Spielform der Realität, wie Dieter Kühn, der in seiner Biographie „Ich Wolkenstein“ (1977) die Frage aufwirft, ob es so, oder nicht auch ganz anders gewesen sein könnte, oder als verdeckte Kritik am herrschenden System.

Als markanteste Vertreter der zweiten Gruppe sind junge DDR-Autoren zu nennen: Peter Hacks mit seinem Drama „Rosie träumt“, in dem Roswitha von Gandersheim als Vehikel für Feudalismus-Kritik herhalten muß; der Lyriker Paul Wiens („Neue Harfenlieder des Oswald von Wolkenstein“), der Komödiendichter Rudi Strahl („Arno Prinz von Wolkenstein“) und die auch im Westen bekannte Irmtraud Morgner. Sie verfremdet in ihrem 1973 erschienenen Frauenroman den DDR-Alltag mittels des „abenteuerlichen Lebens der Trobadora Beatriz“ und bietet an Hand mittelalterlicher Emanzipationsbestrebungen Muster an für die gegenwärtige feministische Befreiung von „feudalen“, geschlechtsspezifischen Zwängen.

Aber nicht nur über Grenzen und Epochen wurden auf dieser Tagung Brücken geschlagen, sondern auch der interdisziplinäre Dialog wurde ,neu und entscheidend belebt Der Wiener Germanist Oskar Pausch demonstrierte an den graphischen Zyklen verschiedener Wiener und Salzburger Künstler der Gegenwart ein in den letzten fünf Jahren zunehmendes Interesse an der Umsetzung mittelalterlicher literarischer Sujets ins graphische Bild. Der Wiener Kom-oonist Kurt Schwertsik beschrieb denselben Vorgang in der Musik, am Beispiel seiner der Moderne verpflichteten und 1978 entstandenen Instrumentalbearbeitungen des Mönchs von Salzburg.

Zwar hat heute eine eher skeptische Einstellung die pathetische Mittelalterbegeisterung der Romantiker abgelöst. Es wäre aber nichts gewonnen, wenn die Werke der letzten beiden Jahrhunderte nur als Negativfolie für das eigene Mittelalterbild dienten; eine Auseinandersetzung mit dem Mittelalter, die die historische Bedingtheit sowohl mittelalterlicher Texte als auch des eigenen Erkenntnisinteresses berücksichtigt, kann nicht ersetzt werden.

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