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Sinnvolle Entrümpelung

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Nach drei Jahrzehnten frommer Wünsche bei der Reform der Lehrpläne, nämlich nach deren Entrümpelung, scheint es empfehlenswert, darüber nachzudenken, warum aus dem „Sichten und Lichten” nichts geworden ist.

Lehrpläne und Lehrbücher werden von Fachleuten produziert. Sosehr diese sich darüber einig sind, daß enzyklopädisches Wissen zugunsten der Entwicklung der Kreativität zurücktreten sollte, so einig sind sie sich auch, daß das keinesfalls in ihrem Fach geschehen dürfe, da es sich bei diesem bekanntlich um das Wichtigste von allen handle.

Für sie selbst stimmt das freilich. Sie haben ihr Fach zu ihrem Beruf gemacht, weil es ihnen mehr als andere Wissenszweige half, ihr Weltbild zu formen. Sie lieben und hüten es. Deshalb wehren sie sich gegen jede Reduktion. Mit Zähigkeit und, wie die Fakten zeigen, mit Erfolg.

Bildung durch Wissen vermitteln zu wollen, ist gewiß ein fruchtbarer Gedanke. Ein Mosaik universitärer Forschungsdisziplinen - noch dazu ein sehr unvollkommenes, weil die spätgekommenen darin fehlen - dient diesem Ziel aber nur sehr beschränkt. Forschung benötigt Spezialisation, Bildung, Zusammenschau. Die fehlt.

Die Natur macht keine großen Sprünge. Sie wiederholt bei der Entwicklung jedes einzelnen Individuums ihren Gang durch die Jahrmillionen. Bevor ein Mensch geboren wird, durchläuft er die Stadien des Einzellers, des Fischs, des Amphi- biums und des Säugetiers. Seine Monogenese (die Entwicklung des einzelnen) wiederholt die Phylogenese (die Entwicklung der Art), sagen die Biologen.

Vom Kind verlangt man jedoch, daß es gleichsam mit ein paar gewaltigen Sprüngen aus der kulturellen Urzeit, in der es gerade das Sprechen erlernte, in das wissenschaftsbetonte Industriezeitalter überwechselt.

Zur Wiederholung der kulturellen Phylogenese in der Monogenese bleibt ihm keine Zeit. Viele Kinder wehren sich, indem sie gar nicht oder höchstens für PrüYungen lernen, manche werden apathisch, andere aggressiv.

Die Entrümpelung ist mehr als nur ein frommer Wunsch: Die Herausforderungen, mit denen sich die kommende Generation konfrontiert sehen wird, sind so mannigfaltig und tiefgreifend, daß Gedächtnisleistung Schöpferkraft nicht ersetzen kann.

Diese kommende Generation muß erkennen, wohin wir uns alle bewegen, und angeregt werden, das Schiff unserer Zivilisation selbst zu neuen Ufern zu steuern. In einer demokratischen Gesellschaft kann sie das nicht irgendwem „da oben” überlassen. Um sie darauf vorzubereiten, müssen wir neue Methoden der Bildung durch Wissen suchen, erproben und wagen.

Mehr als alle anderen Lebewesen schaffen sich die Menschen ihre Umwelt selbst. Die pflegen sie, das heißt lateinisch „colere”; davon kommt bekanntlich das Wort Kultur. Kultur ist das Charakteristikum des Menschen. Ohne sie könnte er gar nicht existieren. Sie wurde zu seiner zweiten Natur.

Kultur ist die Antwort auf die generelle Herausforderung, der sich ein muskelschwaches, mit einem sehr bescheidenen Gebiß und noch kümmerlicheren Krallen ausgestattetes Wesen in seinem Kampf ums Dasein gegenübersah. Sie ist ein Gemeinschaftswerk, in tausenden Generationen gewachsen und weiter wachsend.

Eingebettet in eine kulturgeschichtliche Plauderei könnte nahezu das ganze Schulwissen vermittelt werden. Dessen Sinn wird erst verständlich, wenn man erfährt, unter welchen Voraussetzungen und durch welche erstaunlichen geistigen Leistungen die Antworten auf Fragen gefunden wurden, welche Lebenskampf oder Wissensdurst stellten. Das gilt für Chemie ebenso wie für Physik oder Biologie, ja sogar für Geometrie und Arithmetik.

Ein Teil der Geographie läßt sich im Zusammenhang mit der Erforschung der Erde vermitteln, die Erziehung zu bildender Kunst und Musik in Übereinstimmung mit deren Entfaltung betreiben.

Durch die Wiederholung der kulturellen Phylogenese, durch däs Fragen vor dem Antworten werden nicht nur die schöpferischen Kräfte angeregt. Diese Methode kommt zwangsläufig auch der Forderung nach Altersgemäßheit entgegen, weil sie vom Einfachen zum Komplizierten führt. Darüber hinaus macht sie deutlich, wieviel die Menschen, wieviel vor allem die europäischen Völker miteinander verbindet.

Die Entrümpelung ergibt sich von selbst. Was für das Verständnis unserer kulturellen Gegenwart keine Bedeutung hat, darf vernachlässigt werden. Dadurch wird Schulwissen von der Fachdisziplin geschieden.

Eine solche Reform kann freilich nicht von heute auf morgen verwirklicht werden. Sie verlangt nach theoretischer Vorarbeit, nach Erprobung, und bei Bewährung nach völlig neuen Wegen der Lehrerbildung. Da man nun aber schon drei Jahrzehnte lang weiß, daß etwas geschehen muß, könnte man im vierten, den achtziger Jahren, damit beginnen, etwas zu tun.

Für Experimente eignet sich das Feld der Erwachsenenbildung, von derV olkshochschule bis zu der noch imaginären ORF-Akademie besonders gut.

Werden Regierung, Sozialpartner und Bildungsinstitutionen, allen voran deren ranghöchste, der ORF, ein so revolutionäres Experiment wagen?

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