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Völkergemeinschaft als Rechtsgemeinschaft

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Unter den Zweigen des positiven Rechts, mit denen sich der Jurist zu befassen hat, kommt dem Völkerrecht ein besonderer Charakter zu. Während auf Grund der großen Kodifikationen seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts das innerstaatliche Recht auf dem europäischen Festland in ganz überwiegendem Maße geschriebenes Recht ist, hat das Völkerrecht trotz der (vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg) voranschreitenden Kodifikationsbewegung seine Eigenart, grundsätzlich Gewohnheitsrecht also ungeschriebenes Recht zu sein, bewahrt. Zieht man nun in Betracht, daß selbst die kodifizierten Bereiche des Völkerrechts sowie die Satzungen der Statuten internationaler Institutionen mangels eines völkerverfassungsrechtlichen Satzes der gewohnheitsrechtlichen Um- und Weiterbildung unterliegen, so ist es die Hauptaufgabe des Völkerrechtlers geblieben, nicht mit etwaigen schon in Schriftform vorgegebenen Normen zu arbeiten, sondern diese Normen überhaupt erst in einem komplizierten Prozeß aus den Präzedenzfällen zu erarbeiten.

Gerade die Verbindung von Rechtsphilosophie und Völkerrecht hat dem wissenschaftliche ‘Oeuvre des Wiener Altmeisters Alfred Verdroß schon immer seine Faszination verliehen, weil sich der Leser bei der Lektüre weder in ein undurchdringliches Gewirr bloßer Kasuistik verstrickt noch in die romantische Sphäre eines idealistischen Völkerrechtsromans entrückt sah. Dieser Vorzug einer Vereinigung umfassender Kenntnis des Rechts mit einer Wesensschau der internationalen Gemeinschaft, der Verdroß schon früh zu einem Klassiker der Völkerrechtswissenschaft werden ließ, eignet auch dem vorliegenden Buche in hervorragendem Maße. Da auch der Zweitverfasser, Bruno Simma, aus der österreichischen Völkerrechtsschule hervorgegangen ist, haben sich die beiden Autoren in glücklichster Weise ergänzt. Daß sich die Darstellung der Entwicklung der letzten zwölf Jahre im internationalen Bereich an den früheren Stoff nicht bloß nahtlos anschließt, sondern daß auf ihrer Grundlage die Darlegung des gesamten Stoffes oft ganz neu konzipiert worden ist, ist sicherlich ein von Simma in das Werk eingebrachter Beitrag.

Wer heute eine Diagnose des Zustandes der internationalen Gemeinschaft wagt, muß feststellen, daß dieselbe von einer Verwirklichung des rule of law immer noch weit entfernt ist. Dies anzuerkennen, trotzdem aber nicht in Resi gnation die Bedeutung des Völkerrechts in Frage zu stellen, sondern sich vielmehr der Mühe seiner Aufarbeitung, Durchdringung und Darstellung zu unterziehen und damit Praxis und Lehre ein entscheidendes Hilfsmittel in die Hand zu geben, ist ein weiterer Vorzug dieses Buches.

Es ist in drei Hauptteile gegliedert, denen ein Rück- und Ausblick angeschlossen ist. Im ersten Hauptteil, der Begriff, Entwicklung und Eigenart des Völkerrechts behandelt, finden sich so wichtige Fragen, wie das Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und Völkerrecht Völkerrecht und Landesrecht sowie zwischen Völkerrecht und Völkerrechtslehre. Der zweite Hauptteil handelt von den Verfassungsgrundsätzen der Staatengemeinschaft. Hier kann verfolgt werden, wie auf der Grundlage der Verfassung der nichtorganisierten Staatengemeinschaft der Ausbau der völkerrechtlichen Verfassungsgrundsätze zuerst durch den Völkerbund, dann durch die Vereinten Nationen erfolgt ist Diese, ihre Struktur und Funktion, aber auch ihre „Familie”, die Spezialorganisationen, finden hier ihre systematische Bahandlung. Der weitaus umfangreichste Hauptteil ist der dritte, der in der Darstellung der Rezeption der klassischen Völkerrechtsnormen durch die Satzung der Vereinten Nationen und ihre Weiterbildung eine Synthese zwischen dem traditionellen, in der nichtorganisierten Staatengemeinschaft gewachsenen Völkerrecht und dem Ergebnis dessen gibt, was im Rahmen der Weltorganisation an fortschreitender Entwicklung des internationalen Rechts festzustellen ist.

Die Autoren betonen abschließend, daß wir nur „durch den Ausbau aller die Staatengemeinschaft integrierenden Faktoren auf der Grundlage eines billigen Ausgleichs, insbesondere zwischen den Industrieländern und der dritten Welt” hoffen können, „allmählich zum Aufbau einer dauerhaften friedlichen Weltordnung zu gelangen”. Ist es - wie Gadamer gesagt hat - Aufgabe der Wissenschaft, den Gegenstand in seiner Wahrheit zum Sprechen kommen zu lassen, so ist das vorliegende Werk ein wesentlicher Beitrag zur Erhellung dieser Wahrheit auf dem Gebiet des Völkerrechts.

UNIVERSELLES VÖLKERRECHT. Theorie und Praxis. Von Alfred Verdroß und Bruno Simma. Duncker & Humblot, Berlin 1976, 678 S., DM 58,-.

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