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Dichtung der Völker

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In einem ausführlichen, sehr lesenswerten Vorwort kennzeichnet der Verfasser die Prinzipien, die ihn bei dieser entwicklungsgeschichtlichen Gesamtdarstellung der Weltliteratur geleitet haben. Den Begriff „Weltliteratur“ faßt er im Sinne Goethes auf als einen Begriff der Wirkung wie des Ranges. Daraus leitet sich die Kategorie des „Klassischen“ ab das die Bedeutung des Maßgeblichen und Beispielhaften hat. Die Kategorie des Ranges überschneidet sich oft mit der Kategorie der Wirkung, in historischer Sicht geht Wirkung vor Rang, obwohl sie meistens eine Ausstrahlung des Ranges ist. Laaths wertet die Dichtung rein als Kunstwerk und legt nicht, wie dies viele andere Literaturhistoriker tun. außerkünstlerische Maßstäbe an sie an. Die geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Bezüge ignoriert er nicht, aber er stellt sie auch nicht über Gebühr in den Vordergrund. Das vornehmste Ziel seines Buches ist ein Bericht über repräsentative Leistungen, über „die klassischen Zeugnisse von nationalliterarischer und zuhöchst von weltliterarischer Gültigkeit“. Die dichterischen Kunstwerke erscheinen nicht als ein Vergangenes, sondern als ein immer Gegenwärtiges. Für Laaths ist der Sinn des Kunstschaffens „Läuterung, Stärkung und Erhöhung der menschlichen Existenz“, und „die wesentlichen Kunstwerke enthalten und offenbaren diese Kräfte in dreifacher Strahlung als Schönheit, Erhabenheit, Heiterkeit“. Dies ist das tragende Wertgefüge seines Werkes.

Das Hauptthema der Darstellung ist die abendländische Literatur als ein großer, sich entwickelnder Organismus, und es entspricht der Konzeption des Verfassers, daß die anderen Literaturen in ihren wichtigsten Werken in der Verbindung mit dieser erscheinen. Die Aufgliederung des gewaltigen Stoffes erfolgt teils nach Nationen, teils nach Epochen in 23 Hauptabschnitten. Durch die ständigen Hinweise auf die weltliterarischen Beziehungen uijd den geistigen Austausch der Nationen tritt an die Stelle einer bloßen Aneinanderreihung das eindrucksvolle Bild des reichen Miteinanderwirkens dichterischer Kräfte. Der deutsche Anteil ist etwas ausführlicher dargestellt. Biographisches wird nur in knapper Form mitgeteilt, der historische Hintergrund mit wenigen Strichen gezeichnet. Auch die kollektiven Tendenzen einer Epoche, nicht nur ihre schöpferischen Gestalten, werden berücksichtigt. Besonders verdienstvoll ist die Darstellung wegen der zumeist treffend ausgewählten Zitate aus den Dichtungen selbst, aber auch aus literaturwissenschaftlichen Werken und Kritiken namhafter Autoren. Daß der Verfasser -öfter Dichter wieder von anderen Dichtern charakterisieren läßt, muß man ihm danken. Er macht auch auf den Wandel in der Deutung und Wertung einzelner Werke aufmerksam (siehe Cal-deron) und gibt selbst kritische Bemerkungen dazu. Die Charakteristiken der Autoren sind sehr anschaulich, freilich werden die Meinungen über den Raum, der ihnen in der Darstellung gegeben wird, sowie über Einzelheiten der Beurteilung geteilt sein. Besonders gut gelungen ist das Kapitel über die französische Klassik. Lessing kam etwas zu kurz. Goethe ist ein eigenes großes Kapitel gewidmet (27 Seiten). Auf den Inhalt der Werke der Klassiker hätte näher eingegangen werden müssen. Als einen Mangel empfindet man, daß die Erscheinungsjahre der Werke nicht angegeben sind. Der letzte große Abschnitt „Literatur um die Jahrhundertwende“ ist im großen und ganzen weniger gelungen als die vorhergehenden Kapitel. Je mehr sich die Darstellung zeitlich der Gegenwart nähert, desto schwieriger wird die Aufgabe und desto problematischer der Versuch ihrer Lösung. Die „Ausblicke“ fuhren bis in unsere Gegenwart und wollen nur Orientierung in großen Zügen bieten. Der Verfasser verweist hier treffend auf die Krise der Literatur, die durch die Auflösung aller Wertsysteme verursacht wurde.

Laaths ist ein echter Liebhaber der Dichtung, er verfügt über ein reiches Wissen, einen klaren Blick für literarische Zusammenhänge, einen guten künstlerischen Geschmack und das nötige Einfühlungsvermögen. Seine Darstellung hat Schwung und Lebendigkeit, allerdings ist sein Stil oft zu eigenwillig metaphorisch. Trotz mancher Einwände gegen Einzelheiten ist das Buch eine wertvolle und auf jeden Fall sehr anregende, dem Literaturfreund viele Wege weisende Arbeit, die den wirklich gültigen weltliterarischen Besitz sichtet. Die reiche Fülle von Abbildungen (Dichterporträts, Werke der bildenden Kunst, Handschriften, Titelblätter von Büchern, Faksimiles, Karikaturen usw.) unterstützt und ergänzt vortrefflich den Text. Der verhältnismäßig niedrige Preis des Wrkes ermöglicht eine weite Verbreitung.

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