6744728-1967_03_11.jpg
Digital In Arbeit

Mythos, Legende, Vergangenheit

Werbung
Werbung
Werbung

DEK HABSBURGISCHE MYTHOS IN DER ÖSTERREICHISCHEN LITERATUR. Von Claudio Mähris. Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Madeleine v. Passtory. Otto-Müller-Verlag, Salzburg, 1966. 368 Seiten, S 132.—.

Das italienische Original: „II mito absburgico nella letteratura austriaca moderna“ ist bereits 1962 erschienen, das Buch wird aber erst nun in deutscher Übersetzung Beachtung in weiteren Kreisen finden, schon dank seines zugkräftigen Titels. Der Verfasser verfolgt den „habsburgischen Mythos“ durch die deutsch-österreichische Literatur bis über den Untergang der Monarchie hinaus, weil sich gerade da erst neue Perspektiven eröffnen. Dabei geht es allerdings ohne Überschneidungen chronologischer und thematischer Art nicht ab, so daß man eigentlich eine andere Gliederung des Buches erwarten möchte. Aber wenn man sich einmal mit dem Begriff eines „habsburgischen Mythos“ abgefunden hat, ist das Buch doch aller Beachtung wert. Die Bezeichnung „Mythos“ für das Bild, das sich eine Zeit von der Vergangenheit macht und das nie der Wirklichkeit entspricht, im romanischen Bereich, neuerdings auch im anglo-amerikanischen, mehr üblich als im deutschen (St. George, Gundolf, E. Bertram arbeiteten bereits mit diesem Begriff) wird nun sehr reichlich verwendet. Der Verfasser bemüht sich auch, den Begriff zu klären (S. 9 ff.) nur wird er gelegentlich doch überfordert, wenn das Stubenmädchen zu einer mythologischen Gestalt erhoben wird (S. 86), wenn immer wieder von Mythisierung und dergleichen gesprochen wird, so daß die Urbedeutung des Wortes ganz verloren geht, die zunächst ja doch noch etwas durchschimmert. Sie hängt natürlich mit der Geschichtsauffassung des Verfassers zusammen, daß alles nur Mythos oder Legende sei, was über die Vergangeheit gesagt würde (vgl. E. Bertram, Nietzsche). Dieses Bild der habsburgischen Herrschaft reicht nun aber nur von 1806 bis 1918, bezieht also frühere Epochen nicht ein, weshalb die Bezeichnung eingeschränkt werden müßte. Als wesentliche Züge werden hervorgehoben: Tatenlosigkeit, Zurückdrängung persönlichen Fuhlens, Bedeutung des Bürokraten, die Gestalt Franz Josefs I., der „Paternalismus (der aber doch schon beim guten Kaiser Franz I. einsetzt) und ein „Hedonismus“, eine Lebenslust, die gerade die Jahre des Niederganges kennzeichnen. Wohl wird der neue Kaiserstaat von 1804 als ein unzeitgemäßes Gebilde bezeichnet, das eben im Zeitalter des Nationalismus ein Anachronismus geworden zu sein scheint, aber es hätte stärker betont werden müssen, daß die Monarchie eigentlich eine Fortsetzung des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation sein wollte, was nur gelegentlich angedeutet wird, als „mittelalterlich“ hingestellt erscheint und doch nicht nur nach 1945 wie ein Modell für ein künftiges Europa betrachtet wurde. („Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.“) Wie es nun bei Mythen geht, spielt auch hier Spontanität und Unbewußtes ineinander, doch legt Magris Nachdruck auf einen „kommandierten“ Mythos. — Im Grunde handelt es sich also um eine stoffgeschichtliche Arbeit, die hier nur ein ganzes Zeitalter im Spiegelbild verfolgt. Ebenso schillernd aber wie der Begriff Mythos wird auch der Begriff „Rasse“ verwendet, der vielfach mit „Volk“ identifiziert erscheint, was durchaus ungehörig ist (S. 161, 180, 201, 92, „deutscher Rassismus“, gemeint ist „Nationalismus“). Auch bleibt die Frage offen, ob es sich immer um spezifische österreichische („habsbur-gische“) Erscheinungen handelt, so etwa spielt das Biedermeier über die habsburgischen Grenzen hinaus, ebenso Dorfgeschichte, Heimatkunst, Realismus usw.). Unbedingt müßte aber gesagt werden, daß es sich um die deutsch-österreichische Literatur handelt, wenn schon darauf verwiesen wird, daß es im alten Österreich 14 Literaturen gab, bei denen manche Parallelerscheinungen festgestellt werden können. Daß eine sprachliche Vereinheitlichung entgegen den Nationalsprachen nicht gelingen konnte, nachdem das Latein aufgegeben war und die Führung den deutschsprachigen Gruppen entglitt, ist selbstverständlich. Hervorgehoben aber muß werden, daß bei aller Betonung der Schattenseiten des Habsburger-Staates die Beurteilung im allgemeinen richtig und gerecht ist, was für einen, der nicht in der Tradition des „habsburgischen Mythos“ steht und die Dinge von außen ansieht, wohl leichter ist. — Natürlich haben sich manche Fehler eingeschlichen, manche Dichter oder Schriftsteller fehlen oder verdienten mehr Beachtung, weil sie für das Thema Stoff liefern, obwohl es sich ja — und das muß ausdrücklich betont werden — von vornherein nicht um eine österreichische Literaturgeschichte handelt, sondern um einen Teilaspekt, dessen Fruchtbarkeit sich immer wieder erweist. Etwas störend wirkt, daß der Verfasser vielfach aus zweiter Hand schöpft und allzu häufig kleine Anthologien zugrunde legt. Ebenso sollten, gerade in einer solchen Arbeit, Geschmacksurteile vermieden werden, zumal sie ja gar nichts zur Sache beitragen (S. 19, 226 ff.). Manchmal kommt es aus Platzmangel zu einem unbegründeten Sammelsurium (S. 332, Anm. 101), und reichlich mißverstanden erscheint Adalbert Stifter, über den aber S. 140 der aufschlußreiche Satz zu lesen ist: „Stifter, dessen ruhelose, tragische Intuition immer wieder in seinen Schriften bemerkbar ist, kämpfte während seines ganzen Lebens darum, diese in einer philisterhaften Harmonie und in einem abstrakten Moralismus zu unterdrücken.“ Schließlich muß man aber bei aller Anerkennung des reichen Wissens, der glänzenden Darstellungsgabe (einige Mängel dürften auf Rechnung der Übersetzung gehen), der flüssigen Schreibweise und der originellen Thematik doch noch die Frage stellen nach dem Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit, da Dichtung stets mit jenen Mitteln arbeitet, die zum „Mythos“ führen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung