Flüchtlingskrise und die Außengrenze Ärmelkanal
Das Thema Flucht prägte die öffentliche Debatte auch im Jahr 2023. Nun hat sich die EU auf ein Asylpaket verständigt. Wie ist die Lage an der EU-Grenze? Ein Lokalaugenschein führt uns an eine wenig beachtete Außengrenze: den Ärmelkanal.
Das Thema Flucht prägte die öffentliche Debatte auch im Jahr 2023. Nun hat sich die EU auf ein Asylpaket verständigt. Wie ist die Lage an der EU-Grenze? Ein Lokalaugenschein führt uns an eine wenig beachtete Außengrenze: den Ärmelkanal.
Am 6. Oktober 2023 steht Maarten Brugge in aller Frühe auf. Ein starker Westwind weht über Texel. Ideale Voraussetzungen für einen Strandgutsammler, denn dann wird auf der niederländischen Insel alles mögliche angespült: Holz, Bojen, Flaschenpost, Spielzeug. Es dämmert, als Maarten Brugge, 43 und Strandgutsammler in dritter Generation, in einiger Entfernung etwas leicht Gekrümmtes liegen sieht. „Ein toter Seehund“, denkt er sich, doch als er davorsteht, erschaudert er: Es ist eine schwarze Jogginghose, auch eine Unterhose steckt darin. Aus einem der Hosenbeine ragt der weiße Knochen eines Unterschenkels.
Nach Nordosten getrieben
Er benachrichtigt Notruf und Polizei. Später wird ein paar Kilometer nördlich, bei Pfahl 21, ein Turnschuh gefunden, in dem neben einer Socke auch ein Fußknochen steckt. Ob beide zusammengehören, weiß Maarten Brugge, der mit seiner Frau auf der Insel ein Hotel betreibt, nicht. Deutlich aber ist für ihn: Die Leichenreste stammen von einem oder mehreren Migranten, die rund 400 Kilometer entfernt versuchten, per Boot den Ärmelkanal von Frankreich nach England zu überqueren.
Seit fünf Jahren werden auf Texel im Herbst und bei Westwind immer wieder Rucksäcke und Kleidungsstücke angeschwemmt, erzählt Brugge an einem regnerischen Herbsttag in seinem Wohnzimmer. Ein Teil der Einrichtung ist aus Treibholz gezimmert. Auch Schwimmwesten fand er am Strand, einmal sogar die Bodenplatte eines Schlauchboots. Woher all diese Dinge stammen mussten, wurde ihm klar, als er mehrfach auf Autoschläuche stieß. „Ich sah irgendwo ein Foto von Bootsmigranten, die statt einer Rettungsweste solche Dinger um den Körper trugen.“
Tatsächlich begannen Geflüchtete an der Meerenge von Calais, dort, wo der Ärmelkanal nur 33 Kilometer breit ist, Ende 2018 mit Booten gen England aufzubrechen. Zuvor versteckten sie sich auf oder unter Lkws, die per Fähre nach Dover gelangten, oder versuchten den Eurotunnel zu durchqueren. Jahr für Jahr wurden es seitdem mehr, von knapp 2000 im Jahr 2019 bis weit über 45.000 im Jahr 2022. Für die Schleuser, die die Überfahrten regeln, entstand damit in kurzer Zeit ein lukratives Geschäft – auch wenn in der ersten Hälfte des Jahres 2023 die Zahlen erstmals zurückgingen.
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