Der Kandidat und sein LETZTER TRUMPF

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Martin Schulz, in den Umfragen abgeschlagen, versucht seinen Ruf als "Einer von unten" zu pflegen und die Verachtung der Eliten zu geißeln. Aber das allein hilft wenig.

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Martin Schulz, in den Umfragen abgeschlagen, versucht seinen Ruf als "Einer von unten" zu pflegen und die Verachtung der Eliten zu geißeln. Aber das allein hilft wenig.

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Wenn Politiker Bahnhöfe wären, wäre Martin Schulz dann Saarlouis? Eine gewisse Ähnlichkeit ist da schon: die Randlage im alten Westdeutschland etwa. Schulz kommt von der belgischen Grenze, Saarlouis, das Industriestädtchen mit 35.000 Einwohnern, liegt an der französischen. Der Bahnhof ist unscheinbar, und wirkt an diesem Samstagmittag noch ein wenig unausgeschlafen. Über das vermeintlich durchschnittliche Äußere des Kanzlerkandidaten wird in diesen Wochen viel geschrieben, und müde ist er sicher, mitten in diesem Marathon von einem Wahlkampf. Gleich treffen Saarlouis und Martin Schulz aufeinander: auf dem Kleinen Markt läutet er die letzten zwei Wochen Wahlkampf ein.

Als er die Bühne betritt, ist von Müdigkeit nichts zu merken. Schulz, 61, muss zweifellos angreifen, wenn er beim Urnengang noch etwas bewirken will. Bei 21 Prozent sah ihn der "ARD-Deutschlandtrend" zuletzt. Und damit könnte just er, der im Januar als leuchtender Hoffnungsträger aus Brüssel kam, der SPD ein Desaster historischen Ausmaßes bescheren. Schneller drohte noch nie ein Stern am sozialdemokratischen Firmament zu verglühen.

Doch wie Schulz da hinter seinem roten Pult mit dem Slogan "Zeit für mehr Gerechtigkeit" steht, ist von Resignation keine Spur zu erkennen. Er jongliert mit seinen Lieblingsbällen. Der eine ist die Angriffslust. "Das Land kann mehr erreichen, wenn ein Sozialdemokrat Kanzler ist. Das strebe ich an", beginnt er. Dann wirft er den zweiten rhetorischen Ball, sein Thema, soziale Gerechtigkeit. Er klagt die Ausbeutung von Leiharbeitern an, die schlechtere Bezahlung von Frauen, die er sogleich an diejenige der Männer anpassen werde, die sinkenden Rentenerträge bei höheren Bezügen. Und, was ihm als Quereinsteiger in Richtung Berlin leichter fällt, die bisherige Koalitionspartnerin CDU, die mehr Gerechtigkeit verhindert habe.

Das dritte Element

Wer Schulz schon einmal erlebt hat, der weiß: da ist ein drittes Element, das die Inhalte verbindet. Volksnähe ist sein Amalgam, und Schulz' spezielle Fähigkeit: er hält die Balance zwischen Jovialität und Anbiedern.

Im rheinischen Singsang nimmt er Fahrt auf, skizziert lautmalerisch die sozialen Gegensätze zwischen "hachtem Pflaster" und "schönem Vichtel", er benutzt Umgangssprache, sagt "wenn de" statt "wenn du", und streut häufig ein "Sie kennen dat doch auch" ein.

Das erinnert ein wenig an populäre Comedians. Nur besteht seine Pointe eben in einer Anklage der "Zwei-Klassen-Medizin". Dass der Kanzlerkandidat auf die Seite der gesetzlichen Krankenversicherung gehört, ist klar.

Die Masche zieht, nicht nur hier im Saarland. Es ist genau das, was Martin Schulz seit Beginn des Wahlkampfs sagt, und was die Menschen von ihm hören wollen.

Und jetzt, am Ende der Kampagne, drängt sich der Eindruck auf, dies sei auch sein letzter verbliebener Trumpf: die Wahrnehmung, der Kanzler-Kandidat sei "einer von uns", die ja immerhin an der Basis des sogenannten Schulz-Effekts stand.

Etwas, das die SPD aus der Schusslinie jener rücken könnte, die sie als politische Elite, als entfremdet von der Basis bezeichnen. Schulz muss diese Rolle nicht erst lernen. Also setzt er in Saarlouis zur Ehrenrettung der Unterschätzten und Belächelten an. "Ich hab auch kein Abitur", hebt er an, und verweist auf Journalisten, die sich darüber lustig machten. Kaum weiß man noch, wer ihm eigentlich diese Attribute auf den Leib schrieb, das Aussehen eines Sparkassen-Mitarbeiters, den Charme eines Eisenbahners.

Steilvorlagen in eigener Sache

Klar aber ist: all das sind Steilvorlagen für Martin Schulz. Die Stimme schnellt zwei Gänge empor. "Was für eine Verachtung", und er klingt wirklich empört, er muss Luft holen, bevor er einfordert: "Ich will, dass diese Menschen respektiert werden." Auch dass er Anzüge von der Stange und Kassengestelle auf der Nase trage, habe man ihm vorgeworfen. Schulz deutet das zu Insignien seiner Bodenhaftung um. Und genau an diesem Punkt brandet ihm tatsächlich ein tosender Applaus entgegen.

Der Kleine Markt ist inzwischen gut gefüllt. Manchmal, wenn ein Schauer kommt, breitet sich ein Meer an bunten Regenschirmen vor der Bühne aus. Das "Kanzlerwetter", das die Moderatorin zu Beginn ankündigte, fällt aus.

Schulz ist das egal, und auch den vielen SPD-Mitgliedern, die gekommen sind, um ihn kämpfen zu sehen. Dieter Altmaier etwa, Rentner, ehemaliger Stahlarbeiter in einer Walzwerk-Firma, seit dreieinhalb Jahrzehnten Sozialdemokrat. Martin Schulz hält er für einen "sehr guten Kandidaten, der alles hat, was man zum Kanzler braucht". Was er allerdings vermisst ist: "Mehr Aggressivität. Früher war die SPD engagierter für die Menschen." Es ist das alte Dilemma der Sozialdemokraten, dass Stammwähler Altmaier hier anspricht (siehe Interview nächste Seite). Und als ersten Schritt heraus empfiehlt er auch gleich einen Richtungswechsel, egal ob als Wahlgewinner oder -verlierer. "Ich hoffe, dass die SPD jetzt stark bleibt und nicht wieder mit der CDU koaliert, denn daran geht sie kaputt." Vor dem Einkaufszentrum, wo Altmaier steht, riecht es nach Zigarre.

Auf rutschigem Terrain

Der betagte Genosse aber riecht vor allem Stillstand, und kreidet ihn der Kanzlerin an: "Sie hat Deutschland eingeschläfert. Es tut sich nichts, seit 2005 warten wir auf einen digitalen Breitband- Ausbau, der Atomausstieg kommt nicht voran, und im Diesel-Skandal deckt sie die Automobil-Industrie, statt die Vorstände als Täter zu benennen." Das Feld, inhaltlich und elektoral, in dem sich die deutschen Sozialdemokraten im Herbst 2017 wiederfinden, ist auch auf dem Kleinen Markt von Saarlouis sichtbar. Während Altmaier, verweisend auf die zahlreichen noch unentschlossenen Wähler, noch immer auf eine linke Mehrheit hofft, klingt Jennifer Dissel ganz anders. Auch sie ist SPD-Parteimitglied, allerdings erst seit neun Jahren, und als Erzieherin interessiert sie vor allem die Bildung. An einen Wahlsieg von Schulz glaubt sie nicht mehr, sie hat auch nichts dagegen, die Große Koalition fortzusetzen. Und "Frau Merkel", wie Sozialdemokraten die Kanzlerin gerne nennen, sei eine "gestandene Persönlichkeit, die das Land gut geführt hat".

Ansagen und Zweifel

In welche Richtung der Kandidat geht, ist klar. Hinter seinem Pult, das linke Bein gerne ein wenig angewinkel, die rechte Hand als Taktstock in der Luft, hat Schulz nun Kurs genommen auf Angela Merkel. "Sie will die Vergangenheit verwalten, ich die Zukunft gestalten", reimt Schulz. Eloquenz kann man ihm nicht absprechen.

Doch eigentlich kommt einem eine andere Frage in den Sinn: Stände Schulz bereit, mit seinem Kurs einen langfristigen Neuaufbau der SPD zu betreiben? Würde die Partei ihm, dem EU-Politiker, nicht doch aus der fehlenden Hausmacht einen Strick drehen und ihn bei den anderen gescheiterten Kandidaten einreihen?

So oft er auch betont, was er nach dem 24. September alles tun möchte -die Wahrscheinlichkeit, dass er die Chance dazu bekommt, ist nicht hoch.

Am Ende wird Kandidat Schulz aus dem katholischen Rheinland dann noch zum roten Rufer in der "schwarzen" Wüste -oder gar zum Missionar? "Sagt, was ihr gehört habt", schickt er seine Zuhörer hinaus in die Welt. Auch für ihn geht der Marathon weiter: am späten Nachmittag steht noch Mainz auf dem Programm. Auf dem Bahnhofsgelände von Saarlouis bleiben derweil ein paar Trinker mit Halbliterdosen zurück - ganz ohne Wahlversprechen für die rote Hoffnung Deutschlands.

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