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Die Scheinfassade des Sozialsystems

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Der jüngste Skandal um die Dienstzeit der Arzte im Lorenz Böhlerkrankenhaus ist keineswegs der erste seiner Art.

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Der jüngste Skandal um die Dienstzeit der Arzte im Lorenz Böhlerkrankenhaus ist keineswegs der erste seiner Art.

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Im Februar 1992 schockierte der Innsbrucker Internist Kurt Grünwald die Fernsehöffentlichkeit mit einem Interview: Er berichtete über einen Kollegen, der fünf Tage ohne Unterbrechung gearbeitet habe. Die Ärztekammer rief damals nach einem „Krisengipfel“. Die Aufzählung ähnlicher Proteste ließe sich beliebig fortsetzen.

Auffällig ist, daß die Reaktion der Öffentlichkeit beim jüngsten Anlaß anders war als stets zuvor. Der Mode entsprechend schlug man auf die So-zialversicherungsanstalt hin, die das renommierte Lorenz-Böhler-Spital führt. Man erhob den Vorwurf, die geforderte Einhaltung der gesetzlichen Maximalarbeitszeit - gegen die von den Ärzten Sturm gelaufen wurde - könnte die Versorgung der Patienten behindern. Bei früheren Anlässen wurde hingegen die umgekehrte und ebenso berechtigte Sorge laut: Überlastete Mediziner wären ein Risiko für die Kranken.

Wo liegt also die Wahrheit? Mag sein, in der sprichwörtlichen Mitte. Eher wohl aber in dem Umstand, daß ein verkommenes System seine Schwächen zeigt. Sie treten an immer mehr Stellen hervor und lassen erkennen, daß unser vielgerühmter Sozialstaat immer mehr das Gesicht einer glanzvollen, jedoch ab-bröckelnden Scheinfassade zeigt.

An sich tut man der Leitung der Allgemeinen Unfallversicherungsan - stalt (AUVA) als Dienstherrin ihrer angestellten Ärzte Unrecht. Ihr Generaldirektor Wilhelm Thiel, der nebenbei wieder einmal als Absolvent zahlreicher Dienstreisen ins Gerede kam, versucht nämlich seit Jahren den Teufelskreis zu durchbrechen, der auf vielen Spitälern lastet: Die sogenannten Grundgehälter der Ärzte sind angesichts der erbrachten Leistungen zu niedrig. Sie müssen daher „aufgefettet“ werden. Jeder Weg dorthin hat aber Nachteile. Er führt entweder weg vom anvertrauten normalen „Patientengut“ in die lukrative Privatordination oder in die Überstunden.

Die AUVA hat es leichter. Sie ist ein „reicher“ Spitalserhalter. Das unterscheidet sie etwa von Gemeinden in derselben Rolle. Thiel konnte die Arbeitszeit der Ärzte dadurch reduzieren, daß er trachtete, die Bezüge auf ein angemessenes Niveau zu erhöhen und das medizinische Personal aufzustocken. Der letzte Schritt einer konsequenten Dienstbeschränkung auf 13 Stunden täglich wurde vom Spitalserhalter einfach aufgrund des Paragraphen 19 Arbeitsgesetz unternommen. Und eigentlich ist ja von einer gesetzlichen Sozialversicherungsanstalt zu erwarten, daß sie alle Gesetze, auch dieses, einhält. Jedes andere Vorgehen wäre unzulässig und sogar strafbar.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß vor gar nicht so langer Zeit ein Sozialminister beim Verfassungsgerichtshof einen Landeshauptmann klagte, weil dieser eine vernünftig erscheinende Regelung für den Einkauf am 8. Dezember durchsetzen wollte. Heute üben sich aber Autoritäten des Staates in Versuchen, die Spitalsverantwortli- chen zu einem möglichst eleganten Gesetzesbruch zu überreden. Verschwiegen wird, daß man jahrelang die Schaffung moderner Gesetzesbestimmungen verschlief.

An das Arbeitszeitgesetz kann man aber so gut wie nicht heran: Es ist Zankapfel und heilige Kuh zugleich. Hier demonstriert die vielgerühmte Sozialpartnerschaft klägliche Selbstlähmung. Beide Seiten wollen Änderungen; für beide ist aber die Arbeitszeit Aufmarschplatz ihrer Interessen und Ideologien: 35- Stundenwoche gegen Flexibilisierung, Bandbreitenmodelle der Durchrechnung kontra Überstundenzuschläge. Durch diese Blockierung wurde das geltende Recht zu einem Gebilde fossilen Charakters.

GELÄHMTE SOZIALPARTNER

Jahrelang war das zunehmend beliebte Modell der Gleitzeit rechtlich gar nicht zulässig! Erst heuer wagte man sich an eine Bereinigung dieser grotesken Situation. Arbeitswirklichkeit und Arbeitszeitgesetz - im wesentlichen seit 1969 unverändert - entfernten sich voneinander erheblich. Wie Mikrozensus und andere Untersuchungen ergeben, leisten heute bloß rund 60 Prozent der Dienstnehmer „Regelarbeitszeit“, also das, was dem Gesetz entspricht.

Der entstandene Krach löste nun endlich das Vorhaben aus, eine Neuregelung für alle Spitäler anzugehen. Die Hoffnung auf eine rasche und glückliche Lösung sollte man aber nicht zu hoch ansetzen. Der frischgebackene Chef der Privatangestelltengewerkschaft, Hans Sallmutter, meldete sogleich seine Bedenken an.

Man muß sich wirklich fragen, wie lange wir uns die bisherige Art der Produktion - oder eher Unterlassung — von Sozialgesetzgebung noch leisten können. Im Gegenstand lasten auf uns zwei schwere Versäumnisse gleichzeitig, nämlich die höchst mangelhafte Ordnung der Krankenhausfmanierung einerseits und der Arbeitszeit andererseits.

Mutiger Reformgeist, gepaart mit Realismus in der Betrachtung sozialer und wirtschaftlicher Notwendigkeiten, würde dringend benötigt. Die Regierung, die jetzt ihr Amt antritt, sollte erkennen, daß darin ihre — im wahrsten Sinn des Wortes - letzte Chance liegt. Das Zutagetreten, eigentlich schon das eruptive Aufbre-chen der Unzulänglichkeiten in unseren bestehenden Systemen würde sich sonst häufen. Und das könnte schwere Schäden bis hin zu einer Gefährdung unseres demokratischrechtsstaatlichen Gefüges auslösen.

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