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Grobe Reform - kleiner Ertrag

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Wenn jetzt oft von einer Justizreform, sogar von einer „großen Justizreform“ gesprochen wird, so handelt es sich nicht um eine Änderung des materiellen Rechtes, nach dem der Richter zu entscheiden hat, sondern um den Aufbau der mit der Ausübung der Gerichtsbarkeit betrauten Behörden und die Prüfung, ob ihr gegenwärtiger Standort den Anforderungen der Gegenwart entspricht. Die geplante Veränderung soll auch die sachliche, nicht bloß die örtliche Zuständigkeit beeinflussen, so daß Rechtssachen, die bisher wegen ihrer inneren Beschaffenheit der einen Gerichtsgruppe zugewiesen waren, nunmehr zur Zuständigkeit einer anderen gehören würden. In ersterer Beziehung bedeutet dies eine Änderung des gegenwärtigen, etwa 100 Jahre alten Zustandes der Gerichtsorganisation. Gegen Pläne solcherart läßt sich gewiß nicht einwenden, daß die Zeit für diese Reform noch nicht gekommen sei. Die Dinge, um die es hier geht, sind von solcher Bedeutung für die Allgemeinheit und für jeden einzelnen, daß ein geordnetes Staatswesen zu jeder Zeit in der Lage sein muß, den gegenwärtigen Zustand zu überprüfen und ihn, wenn er überholt ist, abzuändern.

Dem Reformplan liegen folgende Gedanken zugrunde: Die Gerichte erster Instanz sollen stark vermindert werden. An die Stelle von 234 bisher bestehenden Bezirksgerichten sollen 92 „große“ Bezirksgerichte treten. Dies ist nicht etwa so gedacht, daß Rechtssachen, die bisher vor die Bezirksgerichte gehörten, nunmehr zu den Gerichtshöfen übergeleitet würden, sondern es sollen auch die Gerichtshöfe erster Instanz — die „Kreisgerichte“ —, bisher 19, auf neifn vermindert werden. Neben den verbleibenden Bezirksgerichten und den fortbestehenden Gerichtshöfen würde ein ganz neuer Gerichtstypus stehen, der des Landgerichtshofes. Hier sollen die Schwurgerichts-, gegebenenfalls auch die Schöffengerichtsprozesse eines ganzen Bundeslandes erledigt werden. Den Oberlandesgerichten soll, nach dem Plane, die ihnen bisher zustehende Justizverwaltung, die wirklich mit den richterlichen Aufgaben nur in entferntem Zusammenhange steht, abgenommen werden, während der Oberste Gerichtshof in seiner Zuständigkeit und seinem Aufbau unberührt bleibt.

Die „großen Bezirksgerichte“, mit fünf bis sieben Richtern besetzt, gewissermaßen das Herzstück der Reform, hätten nicht bloß einen viel größeren Sprengel als bisher, sondern sie würden auch für jene Rechtssachen zuständig werden, die bisher bei den Gerichtshöfen von Einzelrichtern, aber nach den Vorschriften über das Verfahren vor dem Gerichtshof bearbeitet wurden, so daß zum Beispiel eine Klagebeantwortung erforderlich war. In erster Instanz würde also ein Senat, abgesehen vom Strafprozeß, nur in Patent-, Marken- und ähnlichen Prozessen zu entscheiden haben. Fast in allen Prozessen entschiede dann in erster Instanz ein Einzelrichter. Hier bei der Zurückdrängung der Senatsgerichtsbarkeit handelt es sich um ein oft verhandeltes! Problem; die geplantg Lösung entspricht einer höheren Bewertung der einzelnen auf sich selbst gestellten und allein verantwortlichen Richterpersönlichkeit gegenüber dem Kol-lektivum. Alle diese Maßregeln zielen in erster Reihe auf Verbilligung der Justiz. Es sollen nicht bloß Ersparnisse an der Zahl der angestellten R'chter gemacht, sondern auch die Kosten der vielen kleinen Bezirks- und kleinen Kreisgerichte vermindert werden. Wäre ein solcher Ausdruck mit der Würde des Richteramtes in Einklang zu bringen, so könnte man von Konzentrationsbestrebungen in der Justiz sprechen.

Es ist vielleicht noch nicht einmal die entscheidende Frage, ob diese Bestrebungen wirklich das verfolgte finanzielle Ziel erreichen, sondern ob niSht erhebliche Nachteile ein scheinbare., finanzielles Ersparnis aufwiegen. Man hat darauf hingewiesen, daß die großen Bezirksgerichte auch größere Räumlichkeiten als bisher erfordern, weil es unmöglich ist, den Zuwachs, den die beizubehaltenden Bezirksgerichte an Geschäften erfahren, in den bisherigen Räumen unterzubringen. Die Inanspruchnahme von Häusern außerhalb des bisherigen Gerichtsgebäudes würde an den betroffenen Orten die Wohnungsnot verschärfen, und die dafür zu entrichtenden Mietzinse würden eine erhebliche Neuausgabe für den Staatssäckel darstellen,“ die durch eine Vermietung der freigewordenen Räume in den verlassenen Bezirksgerichten nicht aufgewogen würde.

Sieht man die vorliegenden Äußerungen zur Justizreform durch, so kann man sich des Eindruckes nicht entschlagen, daß ein Gesichtspunkt der ganzen Angelegenheit bisher nicht gebührende Beachtung gefunden hat: das Wohl und Interesse der gerichts eingesessenen, also der bodenständigen Bevölkerung selber. Man wird zwischen einer Änderung der Gerichtsgliederung in den Großstädten und der ländlichen Bezirke unterscheiden müssen. Solche Änderungen sind in Wien und Graz 1939 mit der Auflassung dortiger Gerichtshöfe, in Graz auch von drei dort bis dahin bestandener Bezirksgerichte ohne besondere Schwierigkeiten erfolgt. Ganz lassen sich Erschwerungen aber auch in größeren Städten nicht vermeiden. Würden zum Beispiel in Wien alle Bezirksgerichte des Gemeindegebietes zusammengelegt, so würde, wer bisher in Hietzing zur Beglaubigung einer Untersdirift ein bis zwei Stunden benötigte, voraussichtlich infolge der Zentralisierung, für den gleichen Zweck einen ganzen Vormittag aufopfern müssen. Vor-und Nachteile müssen hier abgewogen werden.

Unendlich wären die Erschwerungen auf dem Lande, namentlich in den Gebirgsgegenden. Es war unvermeidlich, daß im Frühjahr und im Winter 1947 das Kreisgericht L e o b e n von den Bewohnern seiner Sprengelgemeinden im Ennstal nur mit einem Zeitverlust von drei Tagen aufgesucht werden konnte. Solche Belastungen würden bei der geplanten Zusammenlegung der Bezirksgerichte eine viel größere Zahl von Rechtsuchenden treffen. Aber auch die Tätigkeit der R-ichter bliebe betroffen, wenn er zum Beispiel dann eine zeitraubende Reise zu machen hätte, um an Ort und Stelle einen Augenschein vorzunehmen oder bei einer Obduktion anwesend zu sein. Man muß die vielen Obliegenheiten eines Bezirksgerichtes überdenken, das nicht bloß Prozesse, sondern auch die vielen, heute immer wichtiger werdenden außerstreitigen Angelegenheiten (Vormundschatten, Verlassenschaften und so fort), ferner die Strafsachen, nicht bloß die Übertretungen, sondern auch die Voruntersuchungen in den schwereren Fällen bearbeitet. Gewiß, die bürgerlichen Rechtssachen können auf Gerichtstagen außerhalb des Amtssitzes des Bezirksgerichtes, so'wie es schon bisher mehrfach geschah, erledigt werden. Ein Richter kommt iede Woche an einem im voraus bestimmten Ta^e in eine Gemeinde, um • dort die in die Zuständigkeit seines Bezirksgerichtes fallenden bürgerlichen Rechtssachen wahrzunehmen. Doch sollen Streitverhandlungen und Verhandlungen in Strafsachen auf den Gerichtstagen nicht abgehalten werden, so daß der Wirkungskreis der Gerichtstage ziemlicn beschränkt ist. Da der Richter doch zur Besorgung des Schriftführerdienstes und zu seiner sonstigen Unterstützung noch einer zweiten Gerichtsperson bedarf, ist die Abhaltung des Gerichtstages mit Kosten, vornehmlich mit Reisegebühren, verbunden, die der Staatsschatz trägt, wenn sie nicht, was aber selten ist, von der Gemeinde übernommen werden. Schon gegenwärtig ist die Berechnung und Auszahlung dieser Gebühren eine starke Belastung des Dienstes. Dann aber, nach der Einführung der großen Bezirksgerichte und der Vergrößerung des Dienstbereiches, muß sich auch die Zahl der Gerichtstage, der Reisen zu ihnen, die Größe der zurückzulegenden Entfernungen und der Ausgabenetat für den Staatsschatz erhöhen. Die sich so ergebende Mehrbelastung würde zum guten Teil, möglicherweise zur Gänze die durch die Zusammenlegung der Bezirksgerichte erhoffte Ersparnis in Frage stellen.

Doch die Reihe der fatalen Nebenwirkungen einer Zusammenlegung von 142 Bezirksgerichten ist noch nicht zu Ende. Am Sitze eines jeden Bezirksgerichtes hat auch ein Notar seinen Amtssitz, in der Regel auch einer oder mehrere Rechtsanwälte. Wird das Bezirksgericht verlegt, so müssen auch diese für die Rechtspflege wichtigen Organe ihren Standort ändern. Ebenso wie für das Gericht und die Richter müßte also am Sitz des großen Bezirksgerichtes etwa die dreifache Anzahl von Räumlichkeiten für Kanzleien und Wohnungen der nun Zuwandernden zur Verfügung stehen. Das Gegenstück zu den betroffenen Gemeinden würden die 142 anderen in Österreich bilden, an denen bisher ein Bezirksgericht seinen Sitz hatte, das sie jetzt verlieren. Man kann gewiß zweifeln, ob die Standorte aller Bezirksgerichte, vom Standpunkte der Gegenwart aus betrachtet, ganz gut gewählt sind. Aber jeder dieser Gerichtsorte hat sich gewissermaßen eingelebt; ihn zu streichen wäre nicht bloß für den Gerichtsort und die zu ihm gravitierende Bevölkerung ^ein erheblicher Schaden. Während der Beratung des Gegenstandes in der ständigen Vertreterversammlung der Rechtsanwaltskammern wurde als charakteristisches Beispiel angeführt, daß schon 1923 das Bezirksgericht S i 11 i a n in Osttirol aufgehoben wurde, aber noch heute als Dependance des Bezirksgerichtes Lienz fortbesteht, weil eben die praktischen Tatsachen und ihre Notwendigkeiten sich stärker erwiesen als die schönste Theorie.

Hält man sich vor Augen, was die Gesamtbevölkerung nach einer Durchführung der großen Justizreform für Justizzwecke aufwenden müßte, so stellt sich heraus, daß einer möglichen, aber nach ihrer Höhe zweifelhaften Ersparnis des Staatsschatzes, eine sehr erhebliche Mehrbelastung des Volkes gegenüberstünde. Dazu tritt noch eine Reihe von anderen Gesichtspunkten, die eine kritische Überprüfung des Planes unerläßlich machen.

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