Das Dilemma des Westens

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Nach den Anschlägen von Paris: Warum wir nicht vorbehaltlos "Charlie“ sein müssen und woraus die große Ratlosigkeit im Umgang mit dem radikalen Islam resultiert.

Angesichts der Monstrosität von Ereignissen wie jenen in Frankreich scheint sich jeder Einspruch wider den gewaltigen Strom an Solidaritätsbekundungen, der auch diesmal wieder dem Schrecken auf dem Fuße folgte, von selbst zu verbieten. "Je suis Charlie“, "Nous sommes tous Charlie“ - wer wollte dem widersprechen? Ja, die Pressefreiheit ist ein unabdingbares Gut; auch der berühmte, (irrtümlich) Voltaire zugeschriebene Satz ("Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.“) wird durch noch so häufiges Zitieren nicht falsch; ja, die Geschichte der Aufklärung ist auch eine von geistlichen wie weltlichen Majestätsbeleidigungen, wie der ehemalige EU-Parlamentarier Johannes Voggenhuber einmal sinngemäß meinte. Vieles, was wir heute aus guten Gründen für unhintergehbar halten (oder jedenfalls halten sollten), wurde in harten und oft schmerzhaften Kämpfen eben solchen Majestäten abgerungen. Und selbst Gott und seine Gesandten, Propheten, Boten dürfen prinzipiell Gegenstand von Kritik, künstlerischer Arbeit oder Satire sein.

Respekt als Voraussetzung

Und dennoch irritiert etwas an diesem so ostentativ vorgetragenen Freiheits- und-Demokratie-Bekenntnis, an dieser fast trotzig wirkenden "Je suis Charlie“-Stimmung. Denn es stellt sich die Frage, ob Satire, auch wenn sie "alles“ (Tucholsky) darf, auch "alles“ soll oder muss (siehe auch S. 4). "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, lautet der bekannteste Satz des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang analog argumentieren, vielleicht zählt zu diesen Voraussetzungen auch Respekt, vielleicht leben Demokratie und Rechtsstaat auch davon, dass sie nicht extensiv, um jeden Preis ausgenützt und somit gewissermaßen überdehnt werden.

Gewiss, das klingt alles problematisch, missverständlich und scheint geradezu nach Applaus von der falschen Seite zu rufen. Aber das Dilemma besteht - und es ist nicht ohne weiteres auflösbar. Um es noch weiter zu verschärfen, sei eine alles andere als unverdächtige Zeugin genannt: Die russische Historikerin Natalija Narotschnizkaja hat nach dem Anschlag von Paris deutliche Kritik am Westen geübt. Dieser sei angesichts libertärer, ins Absurde übersteigerter Dogmen unfähig, adäquate Antworten auf die Herausforderungen der Zeit, wie jene durch den radikalen Islam, zu geben. "Der Westen hat aufgehört ein Träger christlicher Werte zu sein, die ihm bei Migranten Achtung einbringen würden“, so Narotschnizkaja laut APA. Ja, die Dame arbeitet bei einem Kreml-nahen Institut. Man wird ihr klar widersprechen müssen, wo sie diese Diagnose in ein Plädoyer zugunsten von Putins Autokratie wendet. Aber man kann auch nicht übersehen, dass ein Teil des westlichen "Putin-Verstehertums“ sich genau aus dem speist, was sie kritisiert.

Wider die Selbstaufgabe

Viel ist in diesen Tagen wieder vom richtigen Umgang mit dem Islam die Rede. Wenn man sagt, er gehört zu Europa, muss man das gar nicht im Sinne der politischen Korrektheit bekenntnishaft vortragen; man sollte es ganz prosaisch einfach als Bestandsaufnahme formulieren: Muslime leben hier, also müssen wir einen modus vivendi im Wortsinn finden. Es spricht alles dafür, hier sehr wachsam zu sein, man darf auch skeptisch oder kritisch sein. Und dankbar für Aussagen wie jene des muslimischen Theologen Mouhanad Khorchide: "Apologetische Sätze wie jener, diese Anschläge hätten mit dem Islam nichts zu tun, helfen uns Muslimen nicht weiter.“

Aber die notwendige Europäisierung bzw. Aufklärung des Islams ist das eine. Es entbindet den größeren nichtmuslimischen Teil des Westens nicht davon, sich seiner eigenen geistig-kulturellen und (zumindest kultur-)religiösen Wurzeln zu besinnen. Alles andere wäre tatsächlich Selbstaufgabe oder "Unterwerfung“.

rudolf.mitloehner@furche.at

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